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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Allein daß man auch ein richtiges Princip übertreiben kann, zeigt der erste
oberflächliche Blick aus eine Reihe ästhetischer Schriften, die aus der Hegelschen
Schule hervorgegangen sind. So hat sich namentlich Nötscher fast bei jedem
dramatischen Kunstwerk, das er besprochen hat, die Mühe gegeben, das Schicksal,
das den Helden trifft, als eine nothwendige Folge seiner Schuld darzustellen, und
er hat ein so fein geschliffenes Mikroskop angewendet, daß er oft eine Schuld
herausfindet, wo der gewöhnliche Menschenverstand eine tugendhafte und gerechte
Handlung erblickt. So hat er z. B. das Unglück, das über Cordelia herein¬
bricht, als eine Folge ihres unweiblichen Schweigens dem Vater gegenüber be¬
gründen wollen. Man ist sogar soweit gegangen, in der Auflehnung Antigoncs
gegen ihre Obrigkeit eine Schuld, wenigstens einen starken Nechtsconflict zu finde".
Das ist gewiß weder dem griechischen noch dem britischen Dichter eingefallen.
Wenn man nun schon in der Anwendung dieses Princips irrt, indem man es bei
allen Dichtern, die mau bewundert, aufsucht, da doch ein sehr großer Theil der
europäischen dramatischen Literatur von einem ganz entgegengesetzten Princip aus¬
gegangen ist, so wäre doch erst zu uniersuchen, ob das Princip selbst, in seiner
äußersten Konsequenz genommen, poetisch richtig ist. Daß die einseitige moralische
Abfertigung ("wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch") kein
genügender poetischer Ausgang ist, wird heutzutage allgemein anerkannt. Aber
wir gehen noch weiter. Wir behaupten, daß allerdings die That oder die Schuld
des Helden nothwendig ans seinem Charakter oder ans der Situation entspringen
muß; daß ferner die Gemüthsbewegung, in welche uns die Katastrophe versetzt,
derjenigen entsprechen muß, welche die Voraussetzung der Handlung in uus
erregt hat:--aber wir behaupten auf der andern Seite, daß zum tragischen Ein¬
druck eine gewisse Irrationalität in dem Verhältniß des Schlusses zur Voraus¬
setzung nothwendig ist. Wir müssen die Zweckmäßigkeit des Verhängnisses empfinden,
wir müssen es aber nicht in der Art begreife", daß wir es wie ein mathe¬
matisches Problem ans der gegebenen Aufgabe herleiten können. So scharf z. B.
der Fehler Otto Ludwigs hervorgehoben werden muß, der in der Katastrophe
des Erbfvrstcrs eine Stimmung hervorruft, die der durch die Voraussetzungen
des Stücks in uns erregten Stimmung widerspricht, so würde derjenige Dichter
ebenso fehlen, der aus seinen Prämissen nichts weiter herleitete, als was wir auch
ohne ihn daraus herleiten könnten.

Es scheint im germanischen Wesen jener Trieb begründet zu sein, deu wir
als das charakteristische Streben der neuern Zeit bezeichnet haben. Sobald unter
Engländern und Deutschen, überhaupt das Drama als ein Moment der Kunst
auftaucht, gehen die Dichter vorzugsweise daraus aus, die Charaktere und die
Situation, in der sie sich befinden, genan darzustellen, und die darauf folgende
Handlung ist eine wesentliche Evolution der innern Welt. Es treten zwar Er¬
eignisse ein, die hemmend oder beschleunigend auf den Gang der Handlung ein-


Allein daß man auch ein richtiges Princip übertreiben kann, zeigt der erste
oberflächliche Blick aus eine Reihe ästhetischer Schriften, die aus der Hegelschen
Schule hervorgegangen sind. So hat sich namentlich Nötscher fast bei jedem
dramatischen Kunstwerk, das er besprochen hat, die Mühe gegeben, das Schicksal,
das den Helden trifft, als eine nothwendige Folge seiner Schuld darzustellen, und
er hat ein so fein geschliffenes Mikroskop angewendet, daß er oft eine Schuld
herausfindet, wo der gewöhnliche Menschenverstand eine tugendhafte und gerechte
Handlung erblickt. So hat er z. B. das Unglück, das über Cordelia herein¬
bricht, als eine Folge ihres unweiblichen Schweigens dem Vater gegenüber be¬
gründen wollen. Man ist sogar soweit gegangen, in der Auflehnung Antigoncs
gegen ihre Obrigkeit eine Schuld, wenigstens einen starken Nechtsconflict zu finde».
Das ist gewiß weder dem griechischen noch dem britischen Dichter eingefallen.
Wenn man nun schon in der Anwendung dieses Princips irrt, indem man es bei
allen Dichtern, die mau bewundert, aufsucht, da doch ein sehr großer Theil der
europäischen dramatischen Literatur von einem ganz entgegengesetzten Princip aus¬
gegangen ist, so wäre doch erst zu uniersuchen, ob das Princip selbst, in seiner
äußersten Konsequenz genommen, poetisch richtig ist. Daß die einseitige moralische
Abfertigung („wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch") kein
genügender poetischer Ausgang ist, wird heutzutage allgemein anerkannt. Aber
wir gehen noch weiter. Wir behaupten, daß allerdings die That oder die Schuld
des Helden nothwendig ans seinem Charakter oder ans der Situation entspringen
muß; daß ferner die Gemüthsbewegung, in welche uns die Katastrophe versetzt,
derjenigen entsprechen muß, welche die Voraussetzung der Handlung in uus
erregt hat:—aber wir behaupten auf der andern Seite, daß zum tragischen Ein¬
druck eine gewisse Irrationalität in dem Verhältniß des Schlusses zur Voraus¬
setzung nothwendig ist. Wir müssen die Zweckmäßigkeit des Verhängnisses empfinden,
wir müssen es aber nicht in der Art begreife», daß wir es wie ein mathe¬
matisches Problem ans der gegebenen Aufgabe herleiten können. So scharf z. B.
der Fehler Otto Ludwigs hervorgehoben werden muß, der in der Katastrophe
des Erbfvrstcrs eine Stimmung hervorruft, die der durch die Voraussetzungen
des Stücks in uns erregten Stimmung widerspricht, so würde derjenige Dichter
ebenso fehlen, der aus seinen Prämissen nichts weiter herleitete, als was wir auch
ohne ihn daraus herleiten könnten.

Es scheint im germanischen Wesen jener Trieb begründet zu sein, deu wir
als das charakteristische Streben der neuern Zeit bezeichnet haben. Sobald unter
Engländern und Deutschen, überhaupt das Drama als ein Moment der Kunst
auftaucht, gehen die Dichter vorzugsweise daraus aus, die Charaktere und die
Situation, in der sie sich befinden, genan darzustellen, und die darauf folgende
Handlung ist eine wesentliche Evolution der innern Welt. Es treten zwar Er¬
eignisse ein, die hemmend oder beschleunigend auf den Gang der Handlung ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/21>, abgerufen am 05.02.2025.