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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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ist. Es waltet in dem Ganzen ein dunkles Traumleben, zu welchem der durch-
kliugeude Gedanke der Vorsehung nicht stimmt, und daneben eine gewisse ängst¬
liche Scheu vor der eignen Romantik, vor dem ganz allegorischen Gespensterwesen,
das bald mit dem nüchternsten Rationalismus aufgelöst, bald aber auch mit dem
unbefangensten Aberglaube" festgehalten wird. So ist z. B. der Hanptbösewicht
von einem bösen Geist besessen, der zuweilen mit einer ganz fremden Stimme
aus ihm herausspricht und zuletzt in vollster Körperlichkeit aus ihm heraus¬
getrieben wird. Die Stellung des Dichters zum Glaube" der Kirche, el" höchst
charakteristisches Zeiche" für ihn, ist ganz unklar: vieles könnte der ärgste Frei¬
geist, vieles aber auch der gläubigste Schwärmer geschrieben haben. Daneben
sind einzelne Schilderungen, namentlich von der verschiedenartige" Erscheinung
der Liebe in den verschiedenen Klimaten von einem wunderbaren Geist der Poesie
durchbaucht. --

Die beiden historischen Genrebilder: "Gurte Bürgermeister von Stet¬
tin" und "der Strahlaner Fischzug" sind als solche vortrefflich, aber sie
haben den Fehler, daß sie eigentlich uus nur das unverarbeitete Material geben.
Wäre in diese bunten, dreisten Farben eine ordnende und gestaltende Zeichnung
gekommen, so würden sie nichts zu wünschen übrig lasse".

Die wunderbarste Dichtung dieses Nachlasses ist die Päpstin Johanna.
Der Dichter hat die mittelalterliche Sage, daß im 9. Jahrhundert, als die Kirche
auf das Aergste verwildert war, einmal ein Weib den päpstlichen Stuhl bestieg,
zu Grunde gelegt, und Einzelnes auch mit der Tendenz einer historischen Schil¬
derung ausgeführt. Aber im Ganzen herrscht doch wieder eine eingebildete Welt,
die zum Theil selbst durch Beziehungen auf die Gegenwart ""terbrvche" wird.
Schon die Form muß jeden Unbefangenen befremden. Alle möglichen Verfallen,
Prosa, Dialog und Erzählung sind ans das Burleske durcheinander geworfen, Le¬
genden, Balladen und rein lyrische Gedichte sind in großer Zahl eingemischt,
zum Theil sehr schön, aber ohne innern Zusammenhang zur Handlung. Da gleich
zu Anfang "icht blos der leibhaftige Teufel, sondern auch ein ganz allegorisches
Wesen, Melancholia, die Mutter der Johanna, auftritt, und noch dazu im Innern
deö Berges Hekla, so werden wir von vorn herein in die Stimmung versetzt,
daß uns nichts mehr befremden würde, auch wenn die Meuscheu anfingen, auf
dem Kopfe zu gehen "ud mit den Füßen zu spreche"; aber im Gegentheil werde"
wir zuweilen mitten in dem dunkelsten Märchenweseu durch eiuen sehr handgreif¬
lichen Nationalismus, durch verständige und eindringliche moralische Maximen und
durch eine holzschuittartige Genrezeichnung in Erstaunen gesetzt. Man sieht wohl,
daß der Dichter darauf ausgeht, deu Gestalten des mittelalterlichen Volksglaubens
Fleisch und Blut zu verleihen, und er verräth dazu auch alle Augenblicke ein
ganz ungewöhnliches Talent; manche burleske Schilderungen vom Teufel sind mit
einem köstlichen Realismus ausgeführt. Aber ans der andern Seite ist er wieder


ist. Es waltet in dem Ganzen ein dunkles Traumleben, zu welchem der durch-
kliugeude Gedanke der Vorsehung nicht stimmt, und daneben eine gewisse ängst¬
liche Scheu vor der eignen Romantik, vor dem ganz allegorischen Gespensterwesen,
das bald mit dem nüchternsten Rationalismus aufgelöst, bald aber auch mit dem
unbefangensten Aberglaube» festgehalten wird. So ist z. B. der Hanptbösewicht
von einem bösen Geist besessen, der zuweilen mit einer ganz fremden Stimme
aus ihm herausspricht und zuletzt in vollster Körperlichkeit aus ihm heraus¬
getrieben wird. Die Stellung des Dichters zum Glaube» der Kirche, el» höchst
charakteristisches Zeiche» für ihn, ist ganz unklar: vieles könnte der ärgste Frei¬
geist, vieles aber auch der gläubigste Schwärmer geschrieben haben. Daneben
sind einzelne Schilderungen, namentlich von der verschiedenartige» Erscheinung
der Liebe in den verschiedenen Klimaten von einem wunderbaren Geist der Poesie
durchbaucht. —

Die beiden historischen Genrebilder: „Gurte Bürgermeister von Stet¬
tin" und „der Strahlaner Fischzug" sind als solche vortrefflich, aber sie
haben den Fehler, daß sie eigentlich uus nur das unverarbeitete Material geben.
Wäre in diese bunten, dreisten Farben eine ordnende und gestaltende Zeichnung
gekommen, so würden sie nichts zu wünschen übrig lasse».

Die wunderbarste Dichtung dieses Nachlasses ist die Päpstin Johanna.
Der Dichter hat die mittelalterliche Sage, daß im 9. Jahrhundert, als die Kirche
auf das Aergste verwildert war, einmal ein Weib den päpstlichen Stuhl bestieg,
zu Grunde gelegt, und Einzelnes auch mit der Tendenz einer historischen Schil¬
derung ausgeführt. Aber im Ganzen herrscht doch wieder eine eingebildete Welt,
die zum Theil selbst durch Beziehungen auf die Gegenwart »»terbrvche» wird.
Schon die Form muß jeden Unbefangenen befremden. Alle möglichen Verfallen,
Prosa, Dialog und Erzählung sind ans das Burleske durcheinander geworfen, Le¬
genden, Balladen und rein lyrische Gedichte sind in großer Zahl eingemischt,
zum Theil sehr schön, aber ohne innern Zusammenhang zur Handlung. Da gleich
zu Anfang «icht blos der leibhaftige Teufel, sondern auch ein ganz allegorisches
Wesen, Melancholia, die Mutter der Johanna, auftritt, und noch dazu im Innern
deö Berges Hekla, so werden wir von vorn herein in die Stimmung versetzt,
daß uns nichts mehr befremden würde, auch wenn die Meuscheu anfingen, auf
dem Kopfe zu gehen »ud mit den Füßen zu spreche»; aber im Gegentheil werde«
wir zuweilen mitten in dem dunkelsten Märchenweseu durch eiuen sehr handgreif¬
lichen Nationalismus, durch verständige und eindringliche moralische Maximen und
durch eine holzschuittartige Genrezeichnung in Erstaunen gesetzt. Man sieht wohl,
daß der Dichter darauf ausgeht, deu Gestalten des mittelalterlichen Volksglaubens
Fleisch und Blut zu verleihen, und er verräth dazu auch alle Augenblicke ein
ganz ungewöhnliches Talent; manche burleske Schilderungen vom Teufel sind mit
einem köstlichen Realismus ausgeführt. Aber ans der andern Seite ist er wieder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/184>, abgerufen am 06.02.2025.