Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.Hältnisse geknüpft und fallen endlich ganz auseinander. So verlieren auch die Hältnisse geknüpft und fallen endlich ganz auseinander. So verlieren auch die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0183" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96888"/> <p xml:id="ID_492" prev="#ID_491" next="#ID_493"> Hältnisse geknüpft und fallen endlich ganz auseinander. So verlieren auch die<lb/> an sich ganz vortrefflichen Maximen mit der bestimmten Anwendung ihren eigent¬<lb/> lichen Werth. Im Uebrigen sind sie sehr schon ausgeprägt, z. B. die Lehren,<lb/> die Waldemar im Anfange seinem Pflegesohn ertheilt: „die Freiheit ehren, wo<lb/> sie sich entfaltet, Gewalt zu hemmen, wo sie sich erfrecht, im eignen wie im frem¬<lb/> den Sinn die Zeiten zu erkennen und des Einzelnen Zusammenhang im Ganze»;<lb/> Vergangenes nicht vergessen, Zukunft ahnen, mit Vielen zu bedenken, was für<lb/> Alle soll geschehen, vor allem aber Wahrheit zu verstehen, zu ertragen, bis zur<lb/> eigenen Vernichtung!" — Wenn aber der Mann, der so vortreffliche Grundsätze<lb/> ausspricht und der sich zu Anfang in schwierigen Verhältnissen würdig be¬<lb/> wegt, einer einzelnen Schuld wegen, die ihm von der Vorsehung bestimmte<lb/> Stellung aufgiebt und sich in einer vieljährigen Bußfahrt zwecklos umhertreibt,<lb/> um endlich mit der Erklärung abzugehen: „Ich bin kein Geist des alten Waldemar,<lb/> nur Schatten seines Geistes, ich lebe und bin doch gestorben, ich bin mir selbst<lb/> und Andern ein Räthsel, Ihr seht mich nicht wieder, doch lernt die Lehre noch<lb/> von mir, daß aller Trug erst mit der Sünde in die Welt gekommen;" — so ist<lb/> das ein sehr unklarer und unbefriedigender Ausgang, der durch die angefügten<lb/> komödienhaften Genrebilder keineswegs versöhnt wird. — Ein noch viel düstereres<lb/> Bild gibt das zweite Trauerspiel. Es behandelt die bekannte Geschichte von dem<lb/> Grafen Gleichen, der durch eine morgenländische Prinzessin ans der Sklaverei<lb/> erlöst wurde, sie mit sich nach Europa nahm und nun mit ihr und seiner frühern<lb/> Gemahlin gemeinschaftlich in einer vom Papst anerkannten Doppelehe lebte. Der<lb/> Dichter hat der Sage dadurch eine originelle Wendung gegeben, daß zum Schluß<lb/> der Graf, nachdem er verschiedene andere Vorschläge gemacht, z. B. als Ge¬<lb/> schwister mit einander zu leben, von beiden verlassen wird, und daß beide einen<lb/> andern Gemahl finden. Wäre dieser Ausgang dnrch die innere Structur des<lb/> Drama's herbeigeführt, so würden wir vielleicht ein nicht uniuteressautes Problem<lb/> vor uns haben, aber er geht rein aus dem Zufall hervor, wie deun überhaupt<lb/> der Zufall in diesem Reich der Träume die unbedingte Herrschaft führt. Die<lb/> Formlosigkeit dieses Stücks ist ganz unerträglich. Die Ereignisse sind massenhaft<lb/> aufgehäuft, sehr romantisch und verwickelt, in großer Breite angelegt, aber ohne<lb/> eigentlichen Inhalt, sie verlaufen ohne Folge und die Motive werden vergesse».<lb/> Auch diejenigen Personen, die als g»t gelten sollen, handeln nach sehr zwei¬<lb/> deutigen Maximen; die Schuld ist uach allen Seiten hin so verwickelt und com-<lb/> plicirt, daß man nicht klug daraus wird, man weiß auch nicht einmal, wie sich<lb/> der Dichter dazu stellt, ob er die Schuld in den Gedanken oder in die That<lb/> verlegt. Die Charaktere verwandeln sich im Nu in ihr Gegentheil, man findet<lb/> für sie keinen Leitfaden. Eine Menge Personen wird umgebracht, ohne daß mau<lb/> irgend eine Theilnahme dafür empfindet, um so weniger, da sie alle Augenblicke<lb/> wieder aufwachen, und da man nie weiß, ob es mit dem Tode Ernst oder Spaß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0183]
Hältnisse geknüpft und fallen endlich ganz auseinander. So verlieren auch die
an sich ganz vortrefflichen Maximen mit der bestimmten Anwendung ihren eigent¬
lichen Werth. Im Uebrigen sind sie sehr schon ausgeprägt, z. B. die Lehren,
die Waldemar im Anfange seinem Pflegesohn ertheilt: „die Freiheit ehren, wo
sie sich entfaltet, Gewalt zu hemmen, wo sie sich erfrecht, im eignen wie im frem¬
den Sinn die Zeiten zu erkennen und des Einzelnen Zusammenhang im Ganze»;
Vergangenes nicht vergessen, Zukunft ahnen, mit Vielen zu bedenken, was für
Alle soll geschehen, vor allem aber Wahrheit zu verstehen, zu ertragen, bis zur
eigenen Vernichtung!" — Wenn aber der Mann, der so vortreffliche Grundsätze
ausspricht und der sich zu Anfang in schwierigen Verhältnissen würdig be¬
wegt, einer einzelnen Schuld wegen, die ihm von der Vorsehung bestimmte
Stellung aufgiebt und sich in einer vieljährigen Bußfahrt zwecklos umhertreibt,
um endlich mit der Erklärung abzugehen: „Ich bin kein Geist des alten Waldemar,
nur Schatten seines Geistes, ich lebe und bin doch gestorben, ich bin mir selbst
und Andern ein Räthsel, Ihr seht mich nicht wieder, doch lernt die Lehre noch
von mir, daß aller Trug erst mit der Sünde in die Welt gekommen;" — so ist
das ein sehr unklarer und unbefriedigender Ausgang, der durch die angefügten
komödienhaften Genrebilder keineswegs versöhnt wird. — Ein noch viel düstereres
Bild gibt das zweite Trauerspiel. Es behandelt die bekannte Geschichte von dem
Grafen Gleichen, der durch eine morgenländische Prinzessin ans der Sklaverei
erlöst wurde, sie mit sich nach Europa nahm und nun mit ihr und seiner frühern
Gemahlin gemeinschaftlich in einer vom Papst anerkannten Doppelehe lebte. Der
Dichter hat der Sage dadurch eine originelle Wendung gegeben, daß zum Schluß
der Graf, nachdem er verschiedene andere Vorschläge gemacht, z. B. als Ge¬
schwister mit einander zu leben, von beiden verlassen wird, und daß beide einen
andern Gemahl finden. Wäre dieser Ausgang dnrch die innere Structur des
Drama's herbeigeführt, so würden wir vielleicht ein nicht uniuteressautes Problem
vor uns haben, aber er geht rein aus dem Zufall hervor, wie deun überhaupt
der Zufall in diesem Reich der Träume die unbedingte Herrschaft führt. Die
Formlosigkeit dieses Stücks ist ganz unerträglich. Die Ereignisse sind massenhaft
aufgehäuft, sehr romantisch und verwickelt, in großer Breite angelegt, aber ohne
eigentlichen Inhalt, sie verlaufen ohne Folge und die Motive werden vergesse».
Auch diejenigen Personen, die als g»t gelten sollen, handeln nach sehr zwei¬
deutigen Maximen; die Schuld ist uach allen Seiten hin so verwickelt und com-
plicirt, daß man nicht klug daraus wird, man weiß auch nicht einmal, wie sich
der Dichter dazu stellt, ob er die Schuld in den Gedanken oder in die That
verlegt. Die Charaktere verwandeln sich im Nu in ihr Gegentheil, man findet
für sie keinen Leitfaden. Eine Menge Personen wird umgebracht, ohne daß mau
irgend eine Theilnahme dafür empfindet, um so weniger, da sie alle Augenblicke
wieder aufwachen, und da man nie weiß, ob es mit dem Tode Ernst oder Spaß
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