Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.ernster als jemals, darüber täuscht sich hier niemand. Kein Wunder, wenn die hiesige Fragen Sie mich, was man in dieser neuesten Wendung der Dinge zu erkennen ernster als jemals, darüber täuscht sich hier niemand. Kein Wunder, wenn die hiesige Fragen Sie mich, was man in dieser neuesten Wendung der Dinge zu erkennen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0162" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96867"/> <p xml:id="ID_422" prev="#ID_421"> ernster als jemals, darüber täuscht sich hier niemand. Kein Wunder, wenn die hiesige<lb/> Diplomatie seit acht Tagen, denn am 18. d. Mes. (Sonntag Abends) langte hier die<lb/> erste Kunde von der Annahme-Verweigerung Rußlands an, sich in aufgeregtester Stim¬<lb/> mung befindet. Täglich wechseln Konferenzen der Gesandten der Großmächte unter¬<lb/> einander mit Unterredungen, die sie mit dem auswärtigen Minister — Neschid-Pascha-7-<lb/> habe», ab. Man sieht sich kaum noch anders, als in Geschäften. Und dennoch hatten<lb/> soeben erst jene kleinen, aber glänzenden Abendgesellschaften begonnen, mit denen die<lb/> Saison von Bujukdere zu schließen pflegt. Die letzte dieser geselligen Zusammenkünfte<lb/> war am Mittwoch beim preußischen Gesandten in dessen Landwohnung zu Arnaud-Koje.</p><lb/> <p xml:id="ID_423" next="#ID_424"> Fragen Sie mich, was man in dieser neuesten Wendung der Dinge zu erkennen<lb/> hat. so ist meine Antwort: nichts Anderes, als einen eclatanten Sieg der russischen<lb/> Politik. Das Ganze sieht wie ein diplomatischer Fechtcrstreich aus, aber wohl ver¬<lb/> standen: wie ein äußerst geschickter. Man hatte wol nicht ohne Absicht die Herren<lb/> Kisseloff und Mayendorff, den einen zu Paris, den andern zu Wien, ans die cillercirg-<lb/> loseste Weise betheuern lassen, der Zar sei, ihres Wissens, mit seinen Anforderungen<lb/> nie weiter gegangen, als die modificirte Note der Pforte ihrerseits garantirt; es werde<lb/> darum — das sei kaum zweifelhaft — dieselbe ohne weiteres annehmen und der<lb/> Streit damit ausgeglichen sein. Ganz in demselben Sinne scheint ein Brief geschrieben<lb/> zu sein, den Herr von Brück vor vierzehn Tagen vom russischen Botschafter in Wien<lb/> empfing, und der von den letzten Tagen des August datirt ist. Herr von Mayendorff<lb/> trieb seine Maßnahmen zur absichtlichen Täuschung, aber noch weiter, indem er unter<lb/> dem 31. August an den Obergeneral der russischen Armee, Fürsten Gortschokoff zu<lb/> Bukarest einen für die Annahme der türkischen Modificationen zu Se. Petersburg<lb/> günstig lautenden Brief schrieb, den der Fürst — wol auf besondere Anweisung —<lb/> nicht zauderte, den daselbst residirenden Gcneralconsuln der Großmächte zu communi-<lb/> ciren. Während infolge dessen alle hiesigen Diplomaten des Vertrauens zu Rußland<lb/> und der Hoffnung auf eine nahe Befestigung des Friedens voll waren, erwies sich die<lb/> Psorte allein mißtrauisch und setzte ungenirt von dem Gerede um sie her, von stei¬<lb/> genden Bvrscncoursen und anderen Lappalien ihre Rüstungen fort. Sie nahm den<lb/> Aufruf zur Aushebung von 30,000 Mann neuer Nedis (den sie am 16. v. Mes.<lb/> erlassen), nicht zurück, ließ 13,i00 Mann Egypter nach Warna einschiffen und dirigirte<lb/> anderweitige 10.000 Mann nach dem Lager von Schumla. Das waren, wie sich<lb/> nunmehr herausgestellt und klar erwiesen hat, gerechte Vorsichtsmaßregeln. Ueberhaupt<lb/> kann man nicht in Abrede stellen, daß die Psorte in der gegenwärtigen Situation eine<lb/> Umsicht und Energie an den Tag legt, die in dem Maße niemand ihr zuvor zuge¬<lb/> traut hatte. Es war während einer lange Reihe von Jahren gleichsam als Axiom<lb/> der östlichen Politik angesehen, daß der Divan ein Sklave Rußlands oder Englands<lb/> sei und der Zar den besseren Theil erwähle, wenn er, anstatt unter Blutvergießen<lb/> seine Doppeladler an den Bosporus tragen zu lassen, den „türkischen Schattcnfürsien"<lb/> dort dulde und ihm durch einen Bukonieff oder Titoff (ü) seine Befehle vorschreiben<lb/> ließe —aber siehe da, eben dieser „Schattenfürst" ist jetzt selbstständig genug, um gewisse<lb/> Anforderungen Rußlands mit Entschiedenheit zurückzuweisen, ja selbst im Widerspruch<lb/> mit den Großmächten, die zu einer Nachgiebigkeit gerathen, welche Kaiser Nikolaus</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0162]
ernster als jemals, darüber täuscht sich hier niemand. Kein Wunder, wenn die hiesige
Diplomatie seit acht Tagen, denn am 18. d. Mes. (Sonntag Abends) langte hier die
erste Kunde von der Annahme-Verweigerung Rußlands an, sich in aufgeregtester Stim¬
mung befindet. Täglich wechseln Konferenzen der Gesandten der Großmächte unter¬
einander mit Unterredungen, die sie mit dem auswärtigen Minister — Neschid-Pascha-7-
habe», ab. Man sieht sich kaum noch anders, als in Geschäften. Und dennoch hatten
soeben erst jene kleinen, aber glänzenden Abendgesellschaften begonnen, mit denen die
Saison von Bujukdere zu schließen pflegt. Die letzte dieser geselligen Zusammenkünfte
war am Mittwoch beim preußischen Gesandten in dessen Landwohnung zu Arnaud-Koje.
Fragen Sie mich, was man in dieser neuesten Wendung der Dinge zu erkennen
hat. so ist meine Antwort: nichts Anderes, als einen eclatanten Sieg der russischen
Politik. Das Ganze sieht wie ein diplomatischer Fechtcrstreich aus, aber wohl ver¬
standen: wie ein äußerst geschickter. Man hatte wol nicht ohne Absicht die Herren
Kisseloff und Mayendorff, den einen zu Paris, den andern zu Wien, ans die cillercirg-
loseste Weise betheuern lassen, der Zar sei, ihres Wissens, mit seinen Anforderungen
nie weiter gegangen, als die modificirte Note der Pforte ihrerseits garantirt; es werde
darum — das sei kaum zweifelhaft — dieselbe ohne weiteres annehmen und der
Streit damit ausgeglichen sein. Ganz in demselben Sinne scheint ein Brief geschrieben
zu sein, den Herr von Brück vor vierzehn Tagen vom russischen Botschafter in Wien
empfing, und der von den letzten Tagen des August datirt ist. Herr von Mayendorff
trieb seine Maßnahmen zur absichtlichen Täuschung, aber noch weiter, indem er unter
dem 31. August an den Obergeneral der russischen Armee, Fürsten Gortschokoff zu
Bukarest einen für die Annahme der türkischen Modificationen zu Se. Petersburg
günstig lautenden Brief schrieb, den der Fürst — wol auf besondere Anweisung —
nicht zauderte, den daselbst residirenden Gcneralconsuln der Großmächte zu communi-
ciren. Während infolge dessen alle hiesigen Diplomaten des Vertrauens zu Rußland
und der Hoffnung auf eine nahe Befestigung des Friedens voll waren, erwies sich die
Psorte allein mißtrauisch und setzte ungenirt von dem Gerede um sie her, von stei¬
genden Bvrscncoursen und anderen Lappalien ihre Rüstungen fort. Sie nahm den
Aufruf zur Aushebung von 30,000 Mann neuer Nedis (den sie am 16. v. Mes.
erlassen), nicht zurück, ließ 13,i00 Mann Egypter nach Warna einschiffen und dirigirte
anderweitige 10.000 Mann nach dem Lager von Schumla. Das waren, wie sich
nunmehr herausgestellt und klar erwiesen hat, gerechte Vorsichtsmaßregeln. Ueberhaupt
kann man nicht in Abrede stellen, daß die Psorte in der gegenwärtigen Situation eine
Umsicht und Energie an den Tag legt, die in dem Maße niemand ihr zuvor zuge¬
traut hatte. Es war während einer lange Reihe von Jahren gleichsam als Axiom
der östlichen Politik angesehen, daß der Divan ein Sklave Rußlands oder Englands
sei und der Zar den besseren Theil erwähle, wenn er, anstatt unter Blutvergießen
seine Doppeladler an den Bosporus tragen zu lassen, den „türkischen Schattcnfürsien"
dort dulde und ihm durch einen Bukonieff oder Titoff (ü) seine Befehle vorschreiben
ließe —aber siehe da, eben dieser „Schattenfürst" ist jetzt selbstständig genug, um gewisse
Anforderungen Rußlands mit Entschiedenheit zurückzuweisen, ja selbst im Widerspruch
mit den Großmächten, die zu einer Nachgiebigkeit gerathen, welche Kaiser Nikolaus
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