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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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erkennt ihn gleich und mit der Bekanntschaft ist auch ohne viel Umstände die
Freundschaft geschlossen. So nnmvtivirt und kahl die Behandlung der Situation,
so dürstig ist auch die musikalische Ausführung. Es ist merkwürdig, wie wenig
Begabung für die plastische Darstellung einer bestimmt ausgeprägten Individuali¬
tät Berlioz zeigt, weder Faust "och Mephistopheles bringen es zu einer solchen.
Beide treten auch musikalisch wenig hervor, sie singen mit Ausnahme des Floh¬
liedes nur Recitativ, es bleibt daher bei vereinzelten Zügen, und man kann hier
recht erkennen, wie aus Einzelnheiten, wenn sie anch noch so derb und deutlich
aufgetragen sind, doch kein Ganzes wird. Bei Faust ist Sentimentalität vorherr¬
schend, bei Mephistopheles soll es der Humor sein, allein grade diese Seite ist
vollständig vergriffen. Ziemlich alle musikalischen Teufel neuerer Zeit können ihren
Ursprung von Samiel nicht verleugnen, indeß hat der Berlivzsche Mephistopheles
noch mehr Aehnlichkeit mit Meyerbeers Bertram, und spricht wie jener fast nur
mit Posaunen in verminderten Accorden, außer daß ein wunderlich zerhackter
Rhythmus deu Humor dazu thun soll: im ganzen ist es ein trauriger Gesell, der
weder unterhält noch bange macht. Dieser erkünstelte Humor, der sich vor den
Spiegel stellt und Gesichter schneidet, erreicht seine Höhe im dritten Bilde "Auer¬
bachs Keller." Nach einem wüsten Chor von berauschten Zechern singt Brandes
das Lied von der Ratte. Die Komposition derselben ist nicht die Darstellung
der plattesten Gemeinheit, sie ist es selbst. Es gibt gewiß wenig Musikstücke,
die den Anspruch auf Melodie, Wohlklang, ich möchte sagen auch musikalischen
Anstand, so rücksichtslos aufgeben wie dieses Lied, das die absolute Unschönheit
und nicht einmal die Charakteristik der Caricatur zeigt. Aber was folgt aus
dieses Lied? Die berauschten Zecher, denen es kannibalisch wohl wird, begehen
einen mustcalischen Exceß, der den höchsten Grad trunkenen Humors charakterisiren
soll -- sie singen eine Vocalfuge auf das Wort Amen! Wir wissen freilich schon,
daß nach Berliozs Meinung das absurdeste, was ein Mensch thun kann, das
Fngenmachen ist, aber eine curiose Vorstellung vom Leipziger Publicum -- und
in dieser Beziehung ist es sich gewiß immer gleich geblieben -- ist es doch, daß
sich die Wirkung des Weins bei ihm in improvisirten Fugen äußert. Daß diese
Fuge sich uur in den allertrivialsten Nothbehelfen eines angehenden Contrapunk-
tisten herumtreibt, ist natürlich mit Absicht so eingerichtet, aber diese Absicht kann
natürlich nicht verhüten, daß sie miserabel und langweilig klingt. Und welche
Dürftigkeit ist es, und zugleich welche Unklugheit, zum zweiten Mal die Fuge als
grobes Geschütz des Humors zu verbrauchen; denn zum zweiten Male gelingt es
ihm nicht, uns wieder zu täuschen, und da man nun schon weiß, was er mit sei¬
neu Fugen sagen will, so war es ganz überflüssig, noch "einmal zu beweisen, daß
seine Fugen nichts taugen. Ich bin weit entfernt über den Spott, welchen Me¬
phistopheles über die heiligende Kraft eines sugirten Amen ausspricht, mich pie¬
tistisch zu ereifern, aber verletzend wirkt er, und künstlerisch ist die ganze Episode


erkennt ihn gleich und mit der Bekanntschaft ist auch ohne viel Umstände die
Freundschaft geschlossen. So nnmvtivirt und kahl die Behandlung der Situation,
so dürstig ist auch die musikalische Ausführung. Es ist merkwürdig, wie wenig
Begabung für die plastische Darstellung einer bestimmt ausgeprägten Individuali¬
tät Berlioz zeigt, weder Faust «och Mephistopheles bringen es zu einer solchen.
Beide treten auch musikalisch wenig hervor, sie singen mit Ausnahme des Floh¬
liedes nur Recitativ, es bleibt daher bei vereinzelten Zügen, und man kann hier
recht erkennen, wie aus Einzelnheiten, wenn sie anch noch so derb und deutlich
aufgetragen sind, doch kein Ganzes wird. Bei Faust ist Sentimentalität vorherr¬
schend, bei Mephistopheles soll es der Humor sein, allein grade diese Seite ist
vollständig vergriffen. Ziemlich alle musikalischen Teufel neuerer Zeit können ihren
Ursprung von Samiel nicht verleugnen, indeß hat der Berlivzsche Mephistopheles
noch mehr Aehnlichkeit mit Meyerbeers Bertram, und spricht wie jener fast nur
mit Posaunen in verminderten Accorden, außer daß ein wunderlich zerhackter
Rhythmus deu Humor dazu thun soll: im ganzen ist es ein trauriger Gesell, der
weder unterhält noch bange macht. Dieser erkünstelte Humor, der sich vor den
Spiegel stellt und Gesichter schneidet, erreicht seine Höhe im dritten Bilde „Auer¬
bachs Keller." Nach einem wüsten Chor von berauschten Zechern singt Brandes
das Lied von der Ratte. Die Komposition derselben ist nicht die Darstellung
der plattesten Gemeinheit, sie ist es selbst. Es gibt gewiß wenig Musikstücke,
die den Anspruch auf Melodie, Wohlklang, ich möchte sagen auch musikalischen
Anstand, so rücksichtslos aufgeben wie dieses Lied, das die absolute Unschönheit
und nicht einmal die Charakteristik der Caricatur zeigt. Aber was folgt aus
dieses Lied? Die berauschten Zecher, denen es kannibalisch wohl wird, begehen
einen mustcalischen Exceß, der den höchsten Grad trunkenen Humors charakterisiren
soll — sie singen eine Vocalfuge auf das Wort Amen! Wir wissen freilich schon,
daß nach Berliozs Meinung das absurdeste, was ein Mensch thun kann, das
Fngenmachen ist, aber eine curiose Vorstellung vom Leipziger Publicum — und
in dieser Beziehung ist es sich gewiß immer gleich geblieben — ist es doch, daß
sich die Wirkung des Weins bei ihm in improvisirten Fugen äußert. Daß diese
Fuge sich uur in den allertrivialsten Nothbehelfen eines angehenden Contrapunk-
tisten herumtreibt, ist natürlich mit Absicht so eingerichtet, aber diese Absicht kann
natürlich nicht verhüten, daß sie miserabel und langweilig klingt. Und welche
Dürftigkeit ist es, und zugleich welche Unklugheit, zum zweiten Mal die Fuge als
grobes Geschütz des Humors zu verbrauchen; denn zum zweiten Male gelingt es
ihm nicht, uns wieder zu täuschen, und da man nun schon weiß, was er mit sei¬
neu Fugen sagen will, so war es ganz überflüssig, noch "einmal zu beweisen, daß
seine Fugen nichts taugen. Ich bin weit entfernt über den Spott, welchen Me¬
phistopheles über die heiligende Kraft eines sugirten Amen ausspricht, mich pie¬
tistisch zu ereifern, aber verletzend wirkt er, und künstlerisch ist die ganze Episode


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/132>, abgerufen am 06.02.2025.