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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Die Gesellschaft hat ein Interesse und eine Verantwortlichkeit dafür, daß jedem
ihrem Glieder die Mittel zur geistigen und sittlichen Bildung zugänglich seien.
Sie erklärt den öffentlichen Unterricht für eine Pflicht und garantirt dafür, er ist
unabhängig von der Willkür der Individuen und einzelner Gemeinde". Der
Unterricht ist frei und zugänglich für alle, für den Armen wie für den Reichen."
Ein wunderbares Schauspiel in dieser Gesellschaft, die auf der Grundlage der
möglichsten individuelle" Freiheit errichtet ist, die der Staatsgewalt tausend Be¬
fugnisse versagte, welche der europäischen Gesellschaft als unentbehrliche Attribute
der Obrigkeit erscheine", doch auf dem einen Gebiete, dessen Beherrschung dem
europäischen Gemeinwesen so wenig am Herzen zu liegen schien, daß es fast ganz
der Willkür der Individuen überlassen wurde, den Staat fast zum dictatorischen
Herrscher machte! Die Erhebung der großen Masse des Volks auf ein möglichst
gleiches Niveau der geistigen und sittlichen Bildung -- das war dem Puritaner
die unbestrittene selbstverständliche Voraussetzung eines tüchtigen Staats- und
Gesellschnftölebens, und die Verwirklichung derselben durch das Gesetz erschien
ihm nicht als el" gegc" das Individuum ausgeübter Zwang, sondern als die
Erfüllung eines Wunsches, den zu hegen jedes Bürgers Ehrensache sein mußte.
So war den" eins von den großen Principien des antike" Staats, der mich die
Erziehung der Jugend zur öffentlichen Angelegenheit machte, nach Jahrtausende"
der Finsterniß wieder lebendig geworden, und um soviel, als die politische"
Gemeinschafte" der Neuzeit die der griechischen Welt an Größe und Durch¬
bildung überragen, mußte" auch die Früchte reicher ausfallen.

Freilich ist auch hier zwischen dem Principe und seiner vollständigen Ver¬
wirklichung lange, und noch jetzt in vielen Gegenden der Freistaaten ein nicht
unbedeutender Abstand geblieben. In Connecticut, Neuyork, Pensylvanien und
den kleineren Nachbarstaaten von Massachusetts wurden zwar ähnliche Anordnun¬
gen getroffen, doch es gelang keineswegs, die einzelnen Gemeinden zur voll¬
ständigen Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften anzuhalten. Ein großer Theil
der Jugend blieb ohne Unterricht, viele waren lediglich auf die häusliche Belehrung
angewiesen. In einzelnen Staate", wo das puritanische Element nicht das
Uebergewicht hatte, wurde der Vvlksuiiterricht gänzlich, zum Theil absichtlich,
vernachlässigt. "Ich danke Gott", schreibt Sir William Berkeley, Gouverneur
von Virginien, übrigens ein wohlgesinnter Mann, "daß es bei uns keine Freischulen
und keine Presse gibt, und ich hoffe, wir sollen in den nächsten hundert Jahren
noch keine haben. Denn Lernen hat Ketzerei, Ungehorsam und Sektirerei in
die Welt gebracht und die Presse hat sie, nebst Schmähschriften gegen die beste
Regierung, verbreitet. Gott bewahre uns vor beiden." Es ist eine alte Stimme,
doch hört man sie bei uns noch hente. Noch trauriger gestaltete" sich die Ver¬
hältnisse in den südlicher gelegenen Sklavenstaaten, obwol für die meiste Bevölkerung
nicht ganz so schlimm, wie es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat.


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Die Gesellschaft hat ein Interesse und eine Verantwortlichkeit dafür, daß jedem
ihrem Glieder die Mittel zur geistigen und sittlichen Bildung zugänglich seien.
Sie erklärt den öffentlichen Unterricht für eine Pflicht und garantirt dafür, er ist
unabhängig von der Willkür der Individuen und einzelner Gemeinde». Der
Unterricht ist frei und zugänglich für alle, für den Armen wie für den Reichen."
Ein wunderbares Schauspiel in dieser Gesellschaft, die auf der Grundlage der
möglichsten individuelle» Freiheit errichtet ist, die der Staatsgewalt tausend Be¬
fugnisse versagte, welche der europäischen Gesellschaft als unentbehrliche Attribute
der Obrigkeit erscheine», doch auf dem einen Gebiete, dessen Beherrschung dem
europäischen Gemeinwesen so wenig am Herzen zu liegen schien, daß es fast ganz
der Willkür der Individuen überlassen wurde, den Staat fast zum dictatorischen
Herrscher machte! Die Erhebung der großen Masse des Volks auf ein möglichst
gleiches Niveau der geistigen und sittlichen Bildung — das war dem Puritaner
die unbestrittene selbstverständliche Voraussetzung eines tüchtigen Staats- und
Gesellschnftölebens, und die Verwirklichung derselben durch das Gesetz erschien
ihm nicht als el» gegc» das Individuum ausgeübter Zwang, sondern als die
Erfüllung eines Wunsches, den zu hegen jedes Bürgers Ehrensache sein mußte.
So war den» eins von den großen Principien des antike» Staats, der mich die
Erziehung der Jugend zur öffentlichen Angelegenheit machte, nach Jahrtausende»
der Finsterniß wieder lebendig geworden, und um soviel, als die politische»
Gemeinschafte» der Neuzeit die der griechischen Welt an Größe und Durch¬
bildung überragen, mußte» auch die Früchte reicher ausfallen.

Freilich ist auch hier zwischen dem Principe und seiner vollständigen Ver¬
wirklichung lange, und noch jetzt in vielen Gegenden der Freistaaten ein nicht
unbedeutender Abstand geblieben. In Connecticut, Neuyork, Pensylvanien und
den kleineren Nachbarstaaten von Massachusetts wurden zwar ähnliche Anordnun¬
gen getroffen, doch es gelang keineswegs, die einzelnen Gemeinden zur voll¬
ständigen Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften anzuhalten. Ein großer Theil
der Jugend blieb ohne Unterricht, viele waren lediglich auf die häusliche Belehrung
angewiesen. In einzelnen Staate», wo das puritanische Element nicht das
Uebergewicht hatte, wurde der Vvlksuiiterricht gänzlich, zum Theil absichtlich,
vernachlässigt. „Ich danke Gott", schreibt Sir William Berkeley, Gouverneur
von Virginien, übrigens ein wohlgesinnter Mann, „daß es bei uns keine Freischulen
und keine Presse gibt, und ich hoffe, wir sollen in den nächsten hundert Jahren
noch keine haben. Denn Lernen hat Ketzerei, Ungehorsam und Sektirerei in
die Welt gebracht und die Presse hat sie, nebst Schmähschriften gegen die beste
Regierung, verbreitet. Gott bewahre uns vor beiden." Es ist eine alte Stimme,
doch hört man sie bei uns noch hente. Noch trauriger gestaltete» sich die Ver¬
hältnisse in den südlicher gelegenen Sklavenstaaten, obwol für die meiste Bevölkerung
nicht ganz so schlimm, wie es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat.


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[0107] Die Gesellschaft hat ein Interesse und eine Verantwortlichkeit dafür, daß jedem ihrem Glieder die Mittel zur geistigen und sittlichen Bildung zugänglich seien. Sie erklärt den öffentlichen Unterricht für eine Pflicht und garantirt dafür, er ist unabhängig von der Willkür der Individuen und einzelner Gemeinde». Der Unterricht ist frei und zugänglich für alle, für den Armen wie für den Reichen." Ein wunderbares Schauspiel in dieser Gesellschaft, die auf der Grundlage der möglichsten individuelle» Freiheit errichtet ist, die der Staatsgewalt tausend Be¬ fugnisse versagte, welche der europäischen Gesellschaft als unentbehrliche Attribute der Obrigkeit erscheine», doch auf dem einen Gebiete, dessen Beherrschung dem europäischen Gemeinwesen so wenig am Herzen zu liegen schien, daß es fast ganz der Willkür der Individuen überlassen wurde, den Staat fast zum dictatorischen Herrscher machte! Die Erhebung der großen Masse des Volks auf ein möglichst gleiches Niveau der geistigen und sittlichen Bildung — das war dem Puritaner die unbestrittene selbstverständliche Voraussetzung eines tüchtigen Staats- und Gesellschnftölebens, und die Verwirklichung derselben durch das Gesetz erschien ihm nicht als el» gegc» das Individuum ausgeübter Zwang, sondern als die Erfüllung eines Wunsches, den zu hegen jedes Bürgers Ehrensache sein mußte. So war den» eins von den großen Principien des antike» Staats, der mich die Erziehung der Jugend zur öffentlichen Angelegenheit machte, nach Jahrtausende» der Finsterniß wieder lebendig geworden, und um soviel, als die politische» Gemeinschafte» der Neuzeit die der griechischen Welt an Größe und Durch¬ bildung überragen, mußte» auch die Früchte reicher ausfallen. Freilich ist auch hier zwischen dem Principe und seiner vollständigen Ver¬ wirklichung lange, und noch jetzt in vielen Gegenden der Freistaaten ein nicht unbedeutender Abstand geblieben. In Connecticut, Neuyork, Pensylvanien und den kleineren Nachbarstaaten von Massachusetts wurden zwar ähnliche Anordnun¬ gen getroffen, doch es gelang keineswegs, die einzelnen Gemeinden zur voll¬ ständigen Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften anzuhalten. Ein großer Theil der Jugend blieb ohne Unterricht, viele waren lediglich auf die häusliche Belehrung angewiesen. In einzelnen Staate», wo das puritanische Element nicht das Uebergewicht hatte, wurde der Vvlksuiiterricht gänzlich, zum Theil absichtlich, vernachlässigt. „Ich danke Gott", schreibt Sir William Berkeley, Gouverneur von Virginien, übrigens ein wohlgesinnter Mann, „daß es bei uns keine Freischulen und keine Presse gibt, und ich hoffe, wir sollen in den nächsten hundert Jahren noch keine haben. Denn Lernen hat Ketzerei, Ungehorsam und Sektirerei in die Welt gebracht und die Presse hat sie, nebst Schmähschriften gegen die beste Regierung, verbreitet. Gott bewahre uns vor beiden." Es ist eine alte Stimme, doch hört man sie bei uns noch hente. Noch trauriger gestaltete» sich die Ver¬ hältnisse in den südlicher gelegenen Sklavenstaaten, obwol für die meiste Bevölkerung nicht ganz so schlimm, wie es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat. 13*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/107>, abgerufen am 06.02.2025.