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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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erungen der vorigen Regierung, die bei dem Vorfechter des historischen Rechts
in Erstaunen setzen muß. Stahl unterscheidet sehr wohl das Publicum, zu
welchem er redet. Vor der Universität hat er ,sich doch nicht auf die Weise
vernehmen lassen, wie vor der frommen Versammlung, der er jene berühmte,
auch in den Grenzboten besprochene Rede über die Revolution hielt. Zwar
wendet er bei seiner Construction der Geschichte Friedrich Wilhelms III. eine
kritische Methode an, die jedermann in Erstaunen setzen muß. Namentlich seine
Benutzung der Knesebeck'schen Erzählungen ist wol das Unerhörteste, was bis jetzt
in der Literatur der Coujectnren vorgekommen ist; aber die Ansichten, die er darin
ausspricht, sind von der Art, daß man sie wol nicht theilt, daß man sie aber
wenigstens veDeht. Ob unter gewissen Umständen das conservative oder das
bewegende Princip bei der Leitung des Staats vorwiegen muß, das läßt sich
nicht aus einer Idee herausconstruiren, das muß nach der genauen Kenntniß
jener Umstände abgemessen werden, und wenn man mir das Mitwirken beider
Factoren zu höheren Zwecken zugibt, so ist die Frage, wieweit das eine oder
andere berechtigt ist, keine principielle mehr. Beiläufig möchten wir noch daran
erinnern, daß Stahl in allen seinen Aufsätzen sehr gute Studien zeigt. So hat
es uns z. B. bei seinem Vortrag über das Wesen des Protestantismus und
dessen Beziehung zur Staatsentwickelung sehr gefreut, ungefähr dasselbe wieder¬
zufinden, was wir früher bei Ranke gelesen.

Noch auf eine andere, wie es scheint, halb vergessene Geschichte möchten wir
hinweisen. Bald nach der Anwesenheit des Königs in Königsberg erschien in
dem dortigen berüchtigten SchimMatt: "Der Freimüthige" die Notiz, daß dem
Herausgeber desselben sämmtliche Strafen, die das Gericht wegen einer Reihe
grober Injurien über ihn verhängt, erlassen seien. Man nahm das damals all¬
gemein für eine Erfindung, da eine solche Art des Straferlasses eine Benach-
theiligung der durch ihn Gekränkten sein würde; allein seit der Zeit hat man über
diesen Umstand nichts Näheres erfahren, und eS wäre doch wol im Interesse der
öffentlichen Wohlfahrt, authentisch zu erfahren, wieweit sich der richterliche Schutz
gegen Kränkungen der Persönlichkeit erstreckt.

Daß Leopold Ranke in der That uach München gehen sollte, können wir
noch immer nicht annehmen; wenigstens uns scheint diese Sitte, in verschiedenen
Städten Gastrollen zu geben, für einen Gelehrten nicht geeignet, am wenigsten
für einen Gelehrten von so hohem Range als Ranke. Außerdem ist der ange¬
gebene Zweck, eine historische Schule zu gründen, kaum stichhaltig. Bei einem
historischen Seminar kommt es nicht auf die erste Einrichtung, sondern auf die
dauernde verständige und consequente Leitung an. Zwar liegt in dem Wesen
eines jeden Gelehrten von größerem Ruf heutzutage etwas Kosmopolitisches. Das
Studium der Bibliotheken und die Anschauung des fremden Lebens zwingt ihn
zu größeren Reisen und zuweilen zu bleibendem Aufenthalt in der Fremde; aber


erungen der vorigen Regierung, die bei dem Vorfechter des historischen Rechts
in Erstaunen setzen muß. Stahl unterscheidet sehr wohl das Publicum, zu
welchem er redet. Vor der Universität hat er ,sich doch nicht auf die Weise
vernehmen lassen, wie vor der frommen Versammlung, der er jene berühmte,
auch in den Grenzboten besprochene Rede über die Revolution hielt. Zwar
wendet er bei seiner Construction der Geschichte Friedrich Wilhelms III. eine
kritische Methode an, die jedermann in Erstaunen setzen muß. Namentlich seine
Benutzung der Knesebeck'schen Erzählungen ist wol das Unerhörteste, was bis jetzt
in der Literatur der Coujectnren vorgekommen ist; aber die Ansichten, die er darin
ausspricht, sind von der Art, daß man sie wol nicht theilt, daß man sie aber
wenigstens veDeht. Ob unter gewissen Umständen das conservative oder das
bewegende Princip bei der Leitung des Staats vorwiegen muß, das läßt sich
nicht aus einer Idee herausconstruiren, das muß nach der genauen Kenntniß
jener Umstände abgemessen werden, und wenn man mir das Mitwirken beider
Factoren zu höheren Zwecken zugibt, so ist die Frage, wieweit das eine oder
andere berechtigt ist, keine principielle mehr. Beiläufig möchten wir noch daran
erinnern, daß Stahl in allen seinen Aufsätzen sehr gute Studien zeigt. So hat
es uns z. B. bei seinem Vortrag über das Wesen des Protestantismus und
dessen Beziehung zur Staatsentwickelung sehr gefreut, ungefähr dasselbe wieder¬
zufinden, was wir früher bei Ranke gelesen.

Noch auf eine andere, wie es scheint, halb vergessene Geschichte möchten wir
hinweisen. Bald nach der Anwesenheit des Königs in Königsberg erschien in
dem dortigen berüchtigten SchimMatt: „Der Freimüthige" die Notiz, daß dem
Herausgeber desselben sämmtliche Strafen, die das Gericht wegen einer Reihe
grober Injurien über ihn verhängt, erlassen seien. Man nahm das damals all¬
gemein für eine Erfindung, da eine solche Art des Straferlasses eine Benach-
theiligung der durch ihn Gekränkten sein würde; allein seit der Zeit hat man über
diesen Umstand nichts Näheres erfahren, und eS wäre doch wol im Interesse der
öffentlichen Wohlfahrt, authentisch zu erfahren, wieweit sich der richterliche Schutz
gegen Kränkungen der Persönlichkeit erstreckt.

Daß Leopold Ranke in der That uach München gehen sollte, können wir
noch immer nicht annehmen; wenigstens uns scheint diese Sitte, in verschiedenen
Städten Gastrollen zu geben, für einen Gelehrten nicht geeignet, am wenigsten
für einen Gelehrten von so hohem Range als Ranke. Außerdem ist der ange¬
gebene Zweck, eine historische Schule zu gründen, kaum stichhaltig. Bei einem
historischen Seminar kommt es nicht auf die erste Einrichtung, sondern auf die
dauernde verständige und consequente Leitung an. Zwar liegt in dem Wesen
eines jeden Gelehrten von größerem Ruf heutzutage etwas Kosmopolitisches. Das
Studium der Bibliotheken und die Anschauung des fremden Lebens zwingt ihn
zu größeren Reisen und zuweilen zu bleibendem Aufenthalt in der Fremde; aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/507>, abgerufen am 03.07.2024.