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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Diese Worte machten den Juden ein wenig stutzig: Wie heißt?" -- gegen-
redcte er -- "Nein, nicht so, lieber Herr! so soll es nicht sein. Nein! wenn ich
ihm mehr als eine Drachme abschneide, will ich ihm das Uebergewicht mit schwe¬
rem Golde aufwiegen; wenn ich ihm aber weniger abschneide, will ich mich be¬
gnügen und den Rest ihm schenken."

"Sikler-dre, du Hund!" -- schrie der Kadja -- "bist den" du an meiner
Stelle Kadja, daß du in der Gerichtsstube Vorschriften zu machen wagst? Elender
Ungläubiger! gleich schneide zu!"

Der Jude zitterte nud bebte: "Ich bitte, verzeihe mir, lieber Herr! Ich will
mich nicht in dein Amt mengen, ich weiß, daß es nur dir zukommt, das Urtheil
nach dem Gesetzbuche zu sprechen; ich kann vor dir weder vorwärts noch rückwärts.
Gott segne dem Omer die dreißig Beutel, Gott segne ihm seine ganze Zunge:
wir wollen Freunde bleiben."

Der falsche Kadja stellte sich hierüber sehr erzürnt und rief seinen Dienern:
"Schnell, bringt mir den Büttel! Ich will der Judeuseele beweisen, wie mau
sich aus der Gerichtsstube zu benehmen habe. Und nun, Jude, schneide zu!"

In diesem Momente trat der Büttel ein, das Richtschwert in der Hand.
Der Jude fiel auf die Knie, küßte den Kaftan des Kadja und flehte um Gnade.
Dieser aber war unerbittlich und wiederholte den vorigen drohenden Befehl:
"Entweder schneidest dn die Drachme Zunge, oder aber bengst du dein Haupt
dem Henker."

Nun war der Jude vollkommen überzeugt, daß ihm keine Hilfe sei, außer
wenn er sich' vielleicht mit vielem Gelde loskaufte. Er sprach zum Richter:
"Edler, vortrefflicher Herr! Ich gebe auch dir dreißig Beutel, ebensoviel als ich
dem Omer geschenkt habe, wenn dn mich nicht zwingst, jemandem ein Stück
Zunge abzuschneiden; wie denn erst meinem lieben Freunde Omer! Gott ist mein
Zeuge! edler Herr! bei dem Andenken deines Vaters und deiner Mutter
bekenne ich, daß ich gefehlt, daß ich einen dummen Streich gemacht, welchen
deine Güte mir verzeihen möge!"

"Schneiden sollst du, schneiden! Gauner!" -- zürnte der Kadja und schon
machte der Büttel Miene, den Juden zu packen; doch der Jude umklammerte in
seiner Angst die Knie des Kadja und rief jammernd: "Aj wai! Aj wai Kadja!
Bei deinem Tnrkenglanben, wenn dn ein echter Türke bist, so erbarme dich!"--
Während der Jude also flehte, trat Omer vor, küßte den Kadja und begann für
den Juden zu bitte".

Auf diesen Augenblick hatte der verstellte Kadja gewartet. Er wendete sich
zu Omer mit den Worten: "Auf deine Fürbitte, Omer, sei ihm verziehen. Aber
die Judenseele soll sich merken, wie man sich in der Gerichtsstube zu benehmen
habe, und soll gedenken an den Richterspruch und die große Milde seines Kadja."

Der Jude erlegte dreißig Beutel und der Kadja befahl ihm noch, den


Diese Worte machten den Juden ein wenig stutzig: Wie heißt?" — gegen-
redcte er — „Nein, nicht so, lieber Herr! so soll es nicht sein. Nein! wenn ich
ihm mehr als eine Drachme abschneide, will ich ihm das Uebergewicht mit schwe¬
rem Golde aufwiegen; wenn ich ihm aber weniger abschneide, will ich mich be¬
gnügen und den Rest ihm schenken."

„Sikler-dre, du Hund!" — schrie der Kadja — „bist den» du an meiner
Stelle Kadja, daß du in der Gerichtsstube Vorschriften zu machen wagst? Elender
Ungläubiger! gleich schneide zu!"

Der Jude zitterte nud bebte: „Ich bitte, verzeihe mir, lieber Herr! Ich will
mich nicht in dein Amt mengen, ich weiß, daß es nur dir zukommt, das Urtheil
nach dem Gesetzbuche zu sprechen; ich kann vor dir weder vorwärts noch rückwärts.
Gott segne dem Omer die dreißig Beutel, Gott segne ihm seine ganze Zunge:
wir wollen Freunde bleiben."

Der falsche Kadja stellte sich hierüber sehr erzürnt und rief seinen Dienern:
„Schnell, bringt mir den Büttel! Ich will der Judeuseele beweisen, wie mau
sich aus der Gerichtsstube zu benehmen habe. Und nun, Jude, schneide zu!"

In diesem Momente trat der Büttel ein, das Richtschwert in der Hand.
Der Jude fiel auf die Knie, küßte den Kaftan des Kadja und flehte um Gnade.
Dieser aber war unerbittlich und wiederholte den vorigen drohenden Befehl:
„Entweder schneidest dn die Drachme Zunge, oder aber bengst du dein Haupt
dem Henker."

Nun war der Jude vollkommen überzeugt, daß ihm keine Hilfe sei, außer
wenn er sich' vielleicht mit vielem Gelde loskaufte. Er sprach zum Richter:
„Edler, vortrefflicher Herr! Ich gebe auch dir dreißig Beutel, ebensoviel als ich
dem Omer geschenkt habe, wenn dn mich nicht zwingst, jemandem ein Stück
Zunge abzuschneiden; wie denn erst meinem lieben Freunde Omer! Gott ist mein
Zeuge! edler Herr! bei dem Andenken deines Vaters und deiner Mutter
bekenne ich, daß ich gefehlt, daß ich einen dummen Streich gemacht, welchen
deine Güte mir verzeihen möge!"

„Schneiden sollst du, schneiden! Gauner!" — zürnte der Kadja und schon
machte der Büttel Miene, den Juden zu packen; doch der Jude umklammerte in
seiner Angst die Knie des Kadja und rief jammernd: „Aj wai! Aj wai Kadja!
Bei deinem Tnrkenglanben, wenn dn ein echter Türke bist, so erbarme dich!"--
Während der Jude also flehte, trat Omer vor, küßte den Kadja und begann für
den Juden zu bitte».

Auf diesen Augenblick hatte der verstellte Kadja gewartet. Er wendete sich
zu Omer mit den Worten: „Auf deine Fürbitte, Omer, sei ihm verziehen. Aber
die Judenseele soll sich merken, wie man sich in der Gerichtsstube zu benehmen
habe, und soll gedenken an den Richterspruch und die große Milde seines Kadja."

Der Jude erlegte dreißig Beutel und der Kadja befahl ihm noch, den


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[0466] Diese Worte machten den Juden ein wenig stutzig: Wie heißt?" — gegen- redcte er — „Nein, nicht so, lieber Herr! so soll es nicht sein. Nein! wenn ich ihm mehr als eine Drachme abschneide, will ich ihm das Uebergewicht mit schwe¬ rem Golde aufwiegen; wenn ich ihm aber weniger abschneide, will ich mich be¬ gnügen und den Rest ihm schenken." „Sikler-dre, du Hund!" — schrie der Kadja — „bist den» du an meiner Stelle Kadja, daß du in der Gerichtsstube Vorschriften zu machen wagst? Elender Ungläubiger! gleich schneide zu!" Der Jude zitterte nud bebte: „Ich bitte, verzeihe mir, lieber Herr! Ich will mich nicht in dein Amt mengen, ich weiß, daß es nur dir zukommt, das Urtheil nach dem Gesetzbuche zu sprechen; ich kann vor dir weder vorwärts noch rückwärts. Gott segne dem Omer die dreißig Beutel, Gott segne ihm seine ganze Zunge: wir wollen Freunde bleiben." Der falsche Kadja stellte sich hierüber sehr erzürnt und rief seinen Dienern: „Schnell, bringt mir den Büttel! Ich will der Judeuseele beweisen, wie mau sich aus der Gerichtsstube zu benehmen habe. Und nun, Jude, schneide zu!" In diesem Momente trat der Büttel ein, das Richtschwert in der Hand. Der Jude fiel auf die Knie, küßte den Kaftan des Kadja und flehte um Gnade. Dieser aber war unerbittlich und wiederholte den vorigen drohenden Befehl: „Entweder schneidest dn die Drachme Zunge, oder aber bengst du dein Haupt dem Henker." Nun war der Jude vollkommen überzeugt, daß ihm keine Hilfe sei, außer wenn er sich' vielleicht mit vielem Gelde loskaufte. Er sprach zum Richter: „Edler, vortrefflicher Herr! Ich gebe auch dir dreißig Beutel, ebensoviel als ich dem Omer geschenkt habe, wenn dn mich nicht zwingst, jemandem ein Stück Zunge abzuschneiden; wie denn erst meinem lieben Freunde Omer! Gott ist mein Zeuge! edler Herr! bei dem Andenken deines Vaters und deiner Mutter bekenne ich, daß ich gefehlt, daß ich einen dummen Streich gemacht, welchen deine Güte mir verzeihen möge!" „Schneiden sollst du, schneiden! Gauner!" — zürnte der Kadja und schon machte der Büttel Miene, den Juden zu packen; doch der Jude umklammerte in seiner Angst die Knie des Kadja und rief jammernd: „Aj wai! Aj wai Kadja! Bei deinem Tnrkenglanben, wenn dn ein echter Türke bist, so erbarme dich!"-- Während der Jude also flehte, trat Omer vor, küßte den Kadja und begann für den Juden zu bitte». Auf diesen Augenblick hatte der verstellte Kadja gewartet. Er wendete sich zu Omer mit den Worten: „Auf deine Fürbitte, Omer, sei ihm verziehen. Aber die Judenseele soll sich merken, wie man sich in der Gerichtsstube zu benehmen habe, und soll gedenken an den Richterspruch und die große Milde seines Kadja." Der Jude erlegte dreißig Beutel und der Kadja befahl ihm noch, den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/466>, abgerufen am 01.10.2024.