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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Herzen, von seiner Gemahlin begleitet, nach Amerika ans. -- In dieser letzten
Katastrophe ist wieder ein großer Uebelstand. Im ersten Act tritt uns der Prinz
von Oranien als ein Selbstherrscher entgegen, der den vollkommen unschuldigen
Greis, seinen ehemaligen Freund und Erzieher, blos weil er seinen ehrgeizigen
Absichten im Wege steht, auf das Schaffet schickt, der ihn aber im letzten
Augenblick noch retten könnte, und es nur darum nicht thut, weil Barneveltd sich
nicht vor ihm demüthigen will. Im letzten Act dagegen, wo es gilt, einen doch
nur scheinbar Schuldigen zu retten, was um so mehr seine Pflicht wäre, da er
das an dessen Vater begangene Unrecht wieder gut zu machen hat, erklärt er sich
plötzlich für unfähig, dem Lauf der Gerechtigkeit Einhalt zu thun. Nun mögen
allerdings im Lauf der Zeit Umstände eingetreten sein, die seine Macht eingeschränkt
haben, aber im Drama soll ja eben Einheit der Handlung herrschen, und was
wir nicht selbst erleben, daran glauben wir nicht. So erscheint uns also das
Verfahren des Prinzen, der in diesem Stuck das Schicksal vertritt, durchaus
willkürlich, roh und barbarisch, und wir müssen zu sehr an seine Schuld denken,
um der Schuld der übrige", die für uns die Hauptsache sein sollte, die gehörige
Aufmerksamkeit zuzuwenden. -- Wenn wir aber von diesem Hauptfehler absehen,
so ist die Entwickelung der Handlung, wie sich auch schon aus unsrer kurzen
Jnhalsanzeige ergeben wird, den strengsten Gesetzen der Kunst entsprechend,
und die poetische Ausführung des einzelnen ist angemessen und würdig. --

Herr Neumeister ist zu seiner Tragödie offenbar durch Hebbel angeregt
worden. Er hat die Uebelstände dieses Stücks lebhast empfunden und sich da¬
durch angeregt gefühlt, seinerseits eine poetische Zurechtlegung jener Handlung zu
unternehmen, bei der er im übrigen alle einzelnen Züge, ja selbst die Namen
aus Hebbel beibehalten hat. Einer von den Fehlern des "Herodes und Marianne"
von Hebbel, auf deu wir bei unserer Besprechung dieser Tragödie hingedeutet
haben, liegt darin, daß die eigentliche Handlung vor den Anfang des Stücks fällt
und sich nur nachträglich wie in einem Proceß allmälig vor uus entfaltet; wenig¬
stens zwei Hauptnmstände, die zur Beurtheilung der spätern Katastrophe noth¬
wendig sind, die Schuld des Herodes und die Liebe der Marianne zu ihrem
Gemahl, ehe sie von dieser Schuld unterrichtet war, bleiben uns vollkommen un¬
klar; wir erhalten nur Referate darüber, aber keine wirkliche Anschauung, und so
kommt in die ganze Handlung etwas Unlebeudiges und Abstractes. Um diesen
Fehler zu vermeiden, beginnt Herr Nenmeister mit dem siegreichen Einzug des
Herodes in Jerusalem und mit seiner Verheirathung. Dadurch werden uus aller¬
dings die politische" und sittlichen Voraussetzungen viel deutlicher, wie bei Hebbel,
wir scheu die Motive der Handlung klar vor Augen und leben uns in die ein¬
zelnen Charaktere ein. Sonderbarerweise aber hat der Dichter den Hauptpunkt,
die Ermordung des Hohenpriesters, doch wieder ans das unsichtbare Theater ver¬
legt. Ob so etwas vor dem Anfang des Stücks oder mitten im Stücke spielt,


Herzen, von seiner Gemahlin begleitet, nach Amerika ans. — In dieser letzten
Katastrophe ist wieder ein großer Uebelstand. Im ersten Act tritt uns der Prinz
von Oranien als ein Selbstherrscher entgegen, der den vollkommen unschuldigen
Greis, seinen ehemaligen Freund und Erzieher, blos weil er seinen ehrgeizigen
Absichten im Wege steht, auf das Schaffet schickt, der ihn aber im letzten
Augenblick noch retten könnte, und es nur darum nicht thut, weil Barneveltd sich
nicht vor ihm demüthigen will. Im letzten Act dagegen, wo es gilt, einen doch
nur scheinbar Schuldigen zu retten, was um so mehr seine Pflicht wäre, da er
das an dessen Vater begangene Unrecht wieder gut zu machen hat, erklärt er sich
plötzlich für unfähig, dem Lauf der Gerechtigkeit Einhalt zu thun. Nun mögen
allerdings im Lauf der Zeit Umstände eingetreten sein, die seine Macht eingeschränkt
haben, aber im Drama soll ja eben Einheit der Handlung herrschen, und was
wir nicht selbst erleben, daran glauben wir nicht. So erscheint uns also das
Verfahren des Prinzen, der in diesem Stuck das Schicksal vertritt, durchaus
willkürlich, roh und barbarisch, und wir müssen zu sehr an seine Schuld denken,
um der Schuld der übrige», die für uns die Hauptsache sein sollte, die gehörige
Aufmerksamkeit zuzuwenden. — Wenn wir aber von diesem Hauptfehler absehen,
so ist die Entwickelung der Handlung, wie sich auch schon aus unsrer kurzen
Jnhalsanzeige ergeben wird, den strengsten Gesetzen der Kunst entsprechend,
und die poetische Ausführung des einzelnen ist angemessen und würdig. —

Herr Neumeister ist zu seiner Tragödie offenbar durch Hebbel angeregt
worden. Er hat die Uebelstände dieses Stücks lebhast empfunden und sich da¬
durch angeregt gefühlt, seinerseits eine poetische Zurechtlegung jener Handlung zu
unternehmen, bei der er im übrigen alle einzelnen Züge, ja selbst die Namen
aus Hebbel beibehalten hat. Einer von den Fehlern des „Herodes und Marianne"
von Hebbel, auf deu wir bei unserer Besprechung dieser Tragödie hingedeutet
haben, liegt darin, daß die eigentliche Handlung vor den Anfang des Stücks fällt
und sich nur nachträglich wie in einem Proceß allmälig vor uus entfaltet; wenig¬
stens zwei Hauptnmstände, die zur Beurtheilung der spätern Katastrophe noth¬
wendig sind, die Schuld des Herodes und die Liebe der Marianne zu ihrem
Gemahl, ehe sie von dieser Schuld unterrichtet war, bleiben uns vollkommen un¬
klar; wir erhalten nur Referate darüber, aber keine wirkliche Anschauung, und so
kommt in die ganze Handlung etwas Unlebeudiges und Abstractes. Um diesen
Fehler zu vermeiden, beginnt Herr Nenmeister mit dem siegreichen Einzug des
Herodes in Jerusalem und mit seiner Verheirathung. Dadurch werden uus aller¬
dings die politische» und sittlichen Voraussetzungen viel deutlicher, wie bei Hebbel,
wir scheu die Motive der Handlung klar vor Augen und leben uns in die ein¬
zelnen Charaktere ein. Sonderbarerweise aber hat der Dichter den Hauptpunkt,
die Ermordung des Hohenpriesters, doch wieder ans das unsichtbare Theater ver¬
legt. Ob so etwas vor dem Anfang des Stücks oder mitten im Stücke spielt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/421>, abgerufen am 23.07.2024.