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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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Der Bankerott. Eine gesellschaftliche Tragödie in S Acten. Von Florian Müller.
Leipzig, Thomas. --
Eine Todesstunde. Dramatisches Trauerbild aus der jüngsten Passionsgeschichte.
Von Otto La in. Lüneburg, Herold. --
Lustspiele von R. Genie. Berlin, Lassar. -- Erdballen: Das Kloster von Camenz.--
Ehcstands-Exercitien. -- Durch! --

Es ist namentlich seit dem Jahre 1868, daß sich die Neigung unserer
dramatischen Schriftsteller lebhast auf historische Gegenstände geworfen hat. Das
historische Drama hat unzweifelhaft den Vorzug, aus dem engen Kreise des
Privatlebens heraufzuführen und allgemeinere, namentlich nationale Ideen und
Vorstellungen anzuregen. Die Satire Schillers gegen die gewöhnliche Theater¬
misere, die uns nicht über die Alltäglichkeit des Lebens erhebt, sondern uns noch
tiefer darin versenkt, ist unseren Dichtern zu geläufig, als daß sie nicht gern
durch die Größe und Bedeutung des Stoffes den Mangel an Darstellungskraft
verdecken sollten. Das historische Drama ist in der gegenwärtigen Zeit, abgesehen
von anderen Uebelständen, die mit der Gattung überhaupt verknüpft sind, vor¬
zugsweise zwei Abwegen ausgesetzt, in welche die meisten unsrer Dichter verfallen.
Einmal haben wir alle mehr oder minder Geschichtsphilosophie getrieben, wir
haben über alle bedeutenderen historischen Ereignisse, über ihre Motive und
ihre Bedeutung für die Entwickelung der Menschheit vielfältig reflectirt und sind
daher sehr geneigt, dieses unser Wissen cmticipirend in die Thatsachen zu verlegen
und sie durch Ideen, die eigentlich eiuer spätern Zeit angehören, aufzuputzen.
Sodann hat sich die Detailkenntniß der Geschichte namentlich im gebildeten
Publicum sehr verbreitet, und dadurch wird nicht allein der Dichter dem Stoff
gegenüber unfrei und befangen gemacht, sondern er wird auch in Versuchung
geführt, in seinem Drama die Gesammtverhältnisse des Zeitalters genreartig zu
charakterisiren. Dieser Irrthum hat namentlich seit der nenfranzöstschen Romantik
um sich gegriffen und wird noch gefördert durch das mißverstandene Beispiel
Shakespeares, der bei der eigenthümlichen Einrichtung des altenglischen Theaters
seine Handlung sehr in die Breite anlegen konnte, aber eigentlich doch nie
daraus ausging, das historische Zeitalter darzustellen, sondern nur solche Scenen
ausführte, die für die sittlichen Voraussetzungen und die Stimmung seiner Haupt¬
action nöthig waren. -- Alle diese Bemerkungen gelten mehr oder minder von
den neuen Dramen, über die wir hier noch einiges hinzufügen wollen.

Herr Palleske hat mit seinem Drama in der deutschen Presse vielen
Anklang gefunden, vermuthlich weil man es mehr mit Rücksicht auf die Lecture
als auf die Aufführung ins Ange gefaßt hat. Er ist vorzugsweise durch die
Lecture Macaulays angeregt worden und hat auch häufig diesen Schriftsteller so be¬
nutzt, daß er die Reflexion desselben über die Handlungsweise der Personen,
den Personen selbst in den Mund gelegt hat. Hauptsächlich hat er sich aber


os*
Der Bankerott. Eine gesellschaftliche Tragödie in S Acten. Von Florian Müller.
Leipzig, Thomas. —
Eine Todesstunde. Dramatisches Trauerbild aus der jüngsten Passionsgeschichte.
Von Otto La in. Lüneburg, Herold. —
Lustspiele von R. Genie. Berlin, Lassar. — Erdballen: Das Kloster von Camenz.—
Ehcstands-Exercitien. — Durch! —

Es ist namentlich seit dem Jahre 1868, daß sich die Neigung unserer
dramatischen Schriftsteller lebhast auf historische Gegenstände geworfen hat. Das
historische Drama hat unzweifelhaft den Vorzug, aus dem engen Kreise des
Privatlebens heraufzuführen und allgemeinere, namentlich nationale Ideen und
Vorstellungen anzuregen. Die Satire Schillers gegen die gewöhnliche Theater¬
misere, die uns nicht über die Alltäglichkeit des Lebens erhebt, sondern uns noch
tiefer darin versenkt, ist unseren Dichtern zu geläufig, als daß sie nicht gern
durch die Größe und Bedeutung des Stoffes den Mangel an Darstellungskraft
verdecken sollten. Das historische Drama ist in der gegenwärtigen Zeit, abgesehen
von anderen Uebelständen, die mit der Gattung überhaupt verknüpft sind, vor¬
zugsweise zwei Abwegen ausgesetzt, in welche die meisten unsrer Dichter verfallen.
Einmal haben wir alle mehr oder minder Geschichtsphilosophie getrieben, wir
haben über alle bedeutenderen historischen Ereignisse, über ihre Motive und
ihre Bedeutung für die Entwickelung der Menschheit vielfältig reflectirt und sind
daher sehr geneigt, dieses unser Wissen cmticipirend in die Thatsachen zu verlegen
und sie durch Ideen, die eigentlich eiuer spätern Zeit angehören, aufzuputzen.
Sodann hat sich die Detailkenntniß der Geschichte namentlich im gebildeten
Publicum sehr verbreitet, und dadurch wird nicht allein der Dichter dem Stoff
gegenüber unfrei und befangen gemacht, sondern er wird auch in Versuchung
geführt, in seinem Drama die Gesammtverhältnisse des Zeitalters genreartig zu
charakterisiren. Dieser Irrthum hat namentlich seit der nenfranzöstschen Romantik
um sich gegriffen und wird noch gefördert durch das mißverstandene Beispiel
Shakespeares, der bei der eigenthümlichen Einrichtung des altenglischen Theaters
seine Handlung sehr in die Breite anlegen konnte, aber eigentlich doch nie
daraus ausging, das historische Zeitalter darzustellen, sondern nur solche Scenen
ausführte, die für die sittlichen Voraussetzungen und die Stimmung seiner Haupt¬
action nöthig waren. — Alle diese Bemerkungen gelten mehr oder minder von
den neuen Dramen, über die wir hier noch einiges hinzufügen wollen.

Herr Palleske hat mit seinem Drama in der deutschen Presse vielen
Anklang gefunden, vermuthlich weil man es mehr mit Rücksicht auf die Lecture
als auf die Aufführung ins Ange gefaßt hat. Er ist vorzugsweise durch die
Lecture Macaulays angeregt worden und hat auch häufig diesen Schriftsteller so be¬
nutzt, daß er die Reflexion desselben über die Handlungsweise der Personen,
den Personen selbst in den Mund gelegt hat. Hauptsächlich hat er sich aber


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[0417] Der Bankerott. Eine gesellschaftliche Tragödie in S Acten. Von Florian Müller. Leipzig, Thomas. — Eine Todesstunde. Dramatisches Trauerbild aus der jüngsten Passionsgeschichte. Von Otto La in. Lüneburg, Herold. — Lustspiele von R. Genie. Berlin, Lassar. — Erdballen: Das Kloster von Camenz.— Ehcstands-Exercitien. — Durch! — Es ist namentlich seit dem Jahre 1868, daß sich die Neigung unserer dramatischen Schriftsteller lebhast auf historische Gegenstände geworfen hat. Das historische Drama hat unzweifelhaft den Vorzug, aus dem engen Kreise des Privatlebens heraufzuführen und allgemeinere, namentlich nationale Ideen und Vorstellungen anzuregen. Die Satire Schillers gegen die gewöhnliche Theater¬ misere, die uns nicht über die Alltäglichkeit des Lebens erhebt, sondern uns noch tiefer darin versenkt, ist unseren Dichtern zu geläufig, als daß sie nicht gern durch die Größe und Bedeutung des Stoffes den Mangel an Darstellungskraft verdecken sollten. Das historische Drama ist in der gegenwärtigen Zeit, abgesehen von anderen Uebelständen, die mit der Gattung überhaupt verknüpft sind, vor¬ zugsweise zwei Abwegen ausgesetzt, in welche die meisten unsrer Dichter verfallen. Einmal haben wir alle mehr oder minder Geschichtsphilosophie getrieben, wir haben über alle bedeutenderen historischen Ereignisse, über ihre Motive und ihre Bedeutung für die Entwickelung der Menschheit vielfältig reflectirt und sind daher sehr geneigt, dieses unser Wissen cmticipirend in die Thatsachen zu verlegen und sie durch Ideen, die eigentlich eiuer spätern Zeit angehören, aufzuputzen. Sodann hat sich die Detailkenntniß der Geschichte namentlich im gebildeten Publicum sehr verbreitet, und dadurch wird nicht allein der Dichter dem Stoff gegenüber unfrei und befangen gemacht, sondern er wird auch in Versuchung geführt, in seinem Drama die Gesammtverhältnisse des Zeitalters genreartig zu charakterisiren. Dieser Irrthum hat namentlich seit der nenfranzöstschen Romantik um sich gegriffen und wird noch gefördert durch das mißverstandene Beispiel Shakespeares, der bei der eigenthümlichen Einrichtung des altenglischen Theaters seine Handlung sehr in die Breite anlegen konnte, aber eigentlich doch nie daraus ausging, das historische Zeitalter darzustellen, sondern nur solche Scenen ausführte, die für die sittlichen Voraussetzungen und die Stimmung seiner Haupt¬ action nöthig waren. — Alle diese Bemerkungen gelten mehr oder minder von den neuen Dramen, über die wir hier noch einiges hinzufügen wollen. Herr Palleske hat mit seinem Drama in der deutschen Presse vielen Anklang gefunden, vermuthlich weil man es mehr mit Rücksicht auf die Lecture als auf die Aufführung ins Ange gefaßt hat. Er ist vorzugsweise durch die Lecture Macaulays angeregt worden und hat auch häufig diesen Schriftsteller so be¬ nutzt, daß er die Reflexion desselben über die Handlungsweise der Personen, den Personen selbst in den Mund gelegt hat. Hauptsächlich hat er sich aber os*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/417>, abgerufen am 01.07.2024.