Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dem sie die Maxime zur Richtschnur nahmen, daß man anklagen müsse, wo man
sich nicht entschuldigen könne, und sind keck genug gewesen, zu behaupten, Eng¬
land selbst sei an Oestreichs Haltung in dieser für ganz Europa so wichtigen
Frage schuld. Weil England im Jahre 1848 und i9 Oestreichs Erbfeinde in
Ungarn und Italien unterstützt habe, könne es nicht verlangen, daß sich jetzt
Oestreich für Englands Interessen im Orient blosstelle, so lautet in ihrem wesent¬
lichen Inhalte die Argumentation, und man hebt mit nicht geringer Schaden¬
freude hervor, daß England jetzt durch die Wirkungslosigkeit seiner Schritte im
Orient seine Feindschaft gegen Oestreich büßen müsse. Der Politiker, der eine
solche Argumentation braucht, ist das täuschendste Ebenbild des frierenden Knaben,
der weinend ausruft: ,,es ist meinem Vater schon recht, warum kauft er mir keine
Handschuh nicht!" Wir müssen die Leser wegen der Trivialität des Vergleichs
um Verzeihung bitten, aber eine solche Logik muß unwillkürlich jene Lebensjahre
in Erinnerung bringen, wo der Verstand kaum ans seinem ersten Schlummer
zu erwachen beginnt. Es versteht sich von selbst, daß alle diese Oestreich unge¬
schickt vertheidigenden Artikel mit deu gewöhnlichen obligaten Schmähungen auf
Palmerston verbrämt waren -- den revolutionär'en Feuerbrand, den sich ein
patriotischer Oestreicher nun einmal nicht anders denken kann, als mit Kossuth
und Mazzini Smollis trinkend, und beständig darauf sinnend, wenigstens Wien,
wenn nicht gar den ganzen östreichischen Staat, mit Pulver in die Lust zu
sprengen. Wir beklagen dabei aufrichtig, daß, wenigstens in Süddeutschland,
ein derartiges Räsonnement einige Aussicht hat, Anklang zu finden.

Diese in Süddeutschland so häufige Abneigung gegen England ist allerdings
eine merkwürdige Erscheinung und ein bedeutsames Symptom der Gegensätze in
der politischen Stimmung Süd- und Norddeutschlands. Abgesehen von der
systematischen Agitation der sogenannten Konservativen gegen England, als das
Musterland für Freunde vernünftiger Freiheit, ist wol die erste Ursache des Vor¬
handenseins dieser Stimmung der Umstand, daß die politische Bildung Süd¬
deutschlands wesentlich aus französischen Grundlage" ruht, und da Nachahmer
gewöhnlich ein halbes Jahrhundert hinter ihrem Vorbild zurück find, so hört man
heutzutage in Süddeutschland noch die alten Napoleonischen Ansichten über
England, die vernünftige Franzosen selbst längst abgelegt haben, als unumstößliche
Wahrheit predigen. Die Art Deutschthum, die mau in Süddeutschland cultivirt,
hat ebenfalls viel zur Verbreitung dieser Stimmung beigetragen. Als es galt,
dem Fremden durch die That zu beweisen, daß es noch ein deutsches Volk auf
der Welt gebe, hat man in Süddentschland äußerst wenig gethan; desto eifriger
war man nach dem Frieden mit der Feder, um zu beweisen, daß wegen der
Reinheit seines deutschen Blutes der Baier, der Schwabe u. s. w. der eigent¬
liche deutsche Patriot sei. Das lebhafteste Bedürfniß, sich als Nation zu fühlen,


Grenzboten, til. 1863. 33

dem sie die Maxime zur Richtschnur nahmen, daß man anklagen müsse, wo man
sich nicht entschuldigen könne, und sind keck genug gewesen, zu behaupten, Eng¬
land selbst sei an Oestreichs Haltung in dieser für ganz Europa so wichtigen
Frage schuld. Weil England im Jahre 1848 und i9 Oestreichs Erbfeinde in
Ungarn und Italien unterstützt habe, könne es nicht verlangen, daß sich jetzt
Oestreich für Englands Interessen im Orient blosstelle, so lautet in ihrem wesent¬
lichen Inhalte die Argumentation, und man hebt mit nicht geringer Schaden¬
freude hervor, daß England jetzt durch die Wirkungslosigkeit seiner Schritte im
Orient seine Feindschaft gegen Oestreich büßen müsse. Der Politiker, der eine
solche Argumentation braucht, ist das täuschendste Ebenbild des frierenden Knaben,
der weinend ausruft: ,,es ist meinem Vater schon recht, warum kauft er mir keine
Handschuh nicht!" Wir müssen die Leser wegen der Trivialität des Vergleichs
um Verzeihung bitten, aber eine solche Logik muß unwillkürlich jene Lebensjahre
in Erinnerung bringen, wo der Verstand kaum ans seinem ersten Schlummer
zu erwachen beginnt. Es versteht sich von selbst, daß alle diese Oestreich unge¬
schickt vertheidigenden Artikel mit deu gewöhnlichen obligaten Schmähungen auf
Palmerston verbrämt waren -- den revolutionär'en Feuerbrand, den sich ein
patriotischer Oestreicher nun einmal nicht anders denken kann, als mit Kossuth
und Mazzini Smollis trinkend, und beständig darauf sinnend, wenigstens Wien,
wenn nicht gar den ganzen östreichischen Staat, mit Pulver in die Lust zu
sprengen. Wir beklagen dabei aufrichtig, daß, wenigstens in Süddeutschland,
ein derartiges Räsonnement einige Aussicht hat, Anklang zu finden.

Diese in Süddeutschland so häufige Abneigung gegen England ist allerdings
eine merkwürdige Erscheinung und ein bedeutsames Symptom der Gegensätze in
der politischen Stimmung Süd- und Norddeutschlands. Abgesehen von der
systematischen Agitation der sogenannten Konservativen gegen England, als das
Musterland für Freunde vernünftiger Freiheit, ist wol die erste Ursache des Vor¬
handenseins dieser Stimmung der Umstand, daß die politische Bildung Süd¬
deutschlands wesentlich aus französischen Grundlage» ruht, und da Nachahmer
gewöhnlich ein halbes Jahrhundert hinter ihrem Vorbild zurück find, so hört man
heutzutage in Süddeutschland noch die alten Napoleonischen Ansichten über
England, die vernünftige Franzosen selbst längst abgelegt haben, als unumstößliche
Wahrheit predigen. Die Art Deutschthum, die mau in Süddeutschland cultivirt,
hat ebenfalls viel zur Verbreitung dieser Stimmung beigetragen. Als es galt,
dem Fremden durch die That zu beweisen, daß es noch ein deutsches Volk auf
der Welt gebe, hat man in Süddentschland äußerst wenig gethan; desto eifriger
war man nach dem Frieden mit der Feder, um zu beweisen, daß wegen der
Reinheit seines deutschen Blutes der Baier, der Schwabe u. s. w. der eigent¬
liche deutsche Patriot sei. Das lebhafteste Bedürfniß, sich als Nation zu fühlen,


Grenzboten, til. 1863. 33
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0279" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96454"/>
          <p xml:id="ID_969" prev="#ID_968"> dem sie die Maxime zur Richtschnur nahmen, daß man anklagen müsse, wo man<lb/>
sich nicht entschuldigen könne, und sind keck genug gewesen, zu behaupten, Eng¬<lb/>
land selbst sei an Oestreichs Haltung in dieser für ganz Europa so wichtigen<lb/>
Frage schuld.  Weil England im Jahre 1848 und i9 Oestreichs Erbfeinde in<lb/>
Ungarn und Italien unterstützt habe, könne es nicht verlangen, daß sich jetzt<lb/>
Oestreich für Englands Interessen im Orient blosstelle, so lautet in ihrem wesent¬<lb/>
lichen Inhalte die Argumentation, und man hebt mit nicht geringer Schaden¬<lb/>
freude hervor, daß England jetzt durch die Wirkungslosigkeit seiner Schritte im<lb/>
Orient seine Feindschaft gegen Oestreich büßen müsse.  Der Politiker, der eine<lb/>
solche Argumentation braucht, ist das täuschendste Ebenbild des frierenden Knaben,<lb/>
der weinend ausruft: ,,es ist meinem Vater schon recht, warum kauft er mir keine<lb/>
Handschuh nicht!"  Wir müssen die Leser wegen der Trivialität des Vergleichs<lb/>
um Verzeihung bitten, aber eine solche Logik muß unwillkürlich jene Lebensjahre<lb/>
in Erinnerung bringen, wo der Verstand kaum ans seinem ersten Schlummer<lb/>
zu erwachen beginnt.  Es versteht sich von selbst, daß alle diese Oestreich unge¬<lb/>
schickt vertheidigenden Artikel mit deu gewöhnlichen obligaten Schmähungen auf<lb/>
Palmerston verbrämt waren -- den revolutionär'en Feuerbrand, den sich ein<lb/>
patriotischer Oestreicher nun einmal nicht anders denken kann, als mit Kossuth<lb/>
und Mazzini Smollis trinkend, und beständig darauf sinnend, wenigstens Wien,<lb/>
wenn nicht gar den ganzen östreichischen Staat, mit Pulver in die Lust zu<lb/>
sprengen.  Wir beklagen dabei aufrichtig, daß, wenigstens in Süddeutschland,<lb/>
ein derartiges Räsonnement einige Aussicht hat, Anklang zu finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_970" next="#ID_971"> Diese in Süddeutschland so häufige Abneigung gegen England ist allerdings<lb/>
eine merkwürdige Erscheinung und ein bedeutsames Symptom der Gegensätze in<lb/>
der politischen Stimmung Süd- und Norddeutschlands. Abgesehen von der<lb/>
systematischen Agitation der sogenannten Konservativen gegen England, als das<lb/>
Musterland für Freunde vernünftiger Freiheit, ist wol die erste Ursache des Vor¬<lb/>
handenseins dieser Stimmung der Umstand, daß die politische Bildung Süd¬<lb/>
deutschlands wesentlich aus französischen Grundlage» ruht, und da Nachahmer<lb/>
gewöhnlich ein halbes Jahrhundert hinter ihrem Vorbild zurück find, so hört man<lb/>
heutzutage in Süddeutschland noch die alten Napoleonischen Ansichten über<lb/>
England, die vernünftige Franzosen selbst längst abgelegt haben, als unumstößliche<lb/>
Wahrheit predigen. Die Art Deutschthum, die mau in Süddeutschland cultivirt,<lb/>
hat ebenfalls viel zur Verbreitung dieser Stimmung beigetragen. Als es galt,<lb/>
dem Fremden durch die That zu beweisen, daß es noch ein deutsches Volk auf<lb/>
der Welt gebe, hat man in Süddentschland äußerst wenig gethan; desto eifriger<lb/>
war man nach dem Frieden mit der Feder, um zu beweisen, daß wegen der<lb/>
Reinheit seines deutschen Blutes der Baier, der Schwabe u. s. w. der eigent¬<lb/>
liche deutsche Patriot sei. Das lebhafteste Bedürfniß, sich als Nation zu fühlen,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten, til. 1863. 33</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0279] dem sie die Maxime zur Richtschnur nahmen, daß man anklagen müsse, wo man sich nicht entschuldigen könne, und sind keck genug gewesen, zu behaupten, Eng¬ land selbst sei an Oestreichs Haltung in dieser für ganz Europa so wichtigen Frage schuld. Weil England im Jahre 1848 und i9 Oestreichs Erbfeinde in Ungarn und Italien unterstützt habe, könne es nicht verlangen, daß sich jetzt Oestreich für Englands Interessen im Orient blosstelle, so lautet in ihrem wesent¬ lichen Inhalte die Argumentation, und man hebt mit nicht geringer Schaden¬ freude hervor, daß England jetzt durch die Wirkungslosigkeit seiner Schritte im Orient seine Feindschaft gegen Oestreich büßen müsse. Der Politiker, der eine solche Argumentation braucht, ist das täuschendste Ebenbild des frierenden Knaben, der weinend ausruft: ,,es ist meinem Vater schon recht, warum kauft er mir keine Handschuh nicht!" Wir müssen die Leser wegen der Trivialität des Vergleichs um Verzeihung bitten, aber eine solche Logik muß unwillkürlich jene Lebensjahre in Erinnerung bringen, wo der Verstand kaum ans seinem ersten Schlummer zu erwachen beginnt. Es versteht sich von selbst, daß alle diese Oestreich unge¬ schickt vertheidigenden Artikel mit deu gewöhnlichen obligaten Schmähungen auf Palmerston verbrämt waren -- den revolutionär'en Feuerbrand, den sich ein patriotischer Oestreicher nun einmal nicht anders denken kann, als mit Kossuth und Mazzini Smollis trinkend, und beständig darauf sinnend, wenigstens Wien, wenn nicht gar den ganzen östreichischen Staat, mit Pulver in die Lust zu sprengen. Wir beklagen dabei aufrichtig, daß, wenigstens in Süddeutschland, ein derartiges Räsonnement einige Aussicht hat, Anklang zu finden. Diese in Süddeutschland so häufige Abneigung gegen England ist allerdings eine merkwürdige Erscheinung und ein bedeutsames Symptom der Gegensätze in der politischen Stimmung Süd- und Norddeutschlands. Abgesehen von der systematischen Agitation der sogenannten Konservativen gegen England, als das Musterland für Freunde vernünftiger Freiheit, ist wol die erste Ursache des Vor¬ handenseins dieser Stimmung der Umstand, daß die politische Bildung Süd¬ deutschlands wesentlich aus französischen Grundlage» ruht, und da Nachahmer gewöhnlich ein halbes Jahrhundert hinter ihrem Vorbild zurück find, so hört man heutzutage in Süddeutschland noch die alten Napoleonischen Ansichten über England, die vernünftige Franzosen selbst längst abgelegt haben, als unumstößliche Wahrheit predigen. Die Art Deutschthum, die mau in Süddeutschland cultivirt, hat ebenfalls viel zur Verbreitung dieser Stimmung beigetragen. Als es galt, dem Fremden durch die That zu beweisen, daß es noch ein deutsches Volk auf der Welt gebe, hat man in Süddentschland äußerst wenig gethan; desto eifriger war man nach dem Frieden mit der Feder, um zu beweisen, daß wegen der Reinheit seines deutschen Blutes der Baier, der Schwabe u. s. w. der eigent¬ liche deutsche Patriot sei. Das lebhafteste Bedürfniß, sich als Nation zu fühlen, Grenzboten, til. 1863. 33

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/279
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/279>, abgerufen am 01.07.2024.