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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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sowie die wenig wirksame Hilfe, welche die Seemächte der Pforte leisten konnten,
in Betracht zu.nehmen. Sie konnten blos das schwarze Meer frei halten und
der russischen Armee die Zufuhr zu Wasser abschneiden, was dieser allerdings das
Vorrücken gegen Konstantinopel erschweren, aber nicht verhindern kann. Dieses
wirksam zu thun, ist nur eine Macht im Stande, nämlich Oestreich, dessen In¬
teresse allerdings ein entschiedenes Auftreten gegen die gegenwärtigen Anmaßungen
Rußlands fordert, das aber anfangs nicht einmal geneigt gewesen zu sein scheint,
die Besetzung der Donaufürstenthümer als einen Bruch der Verträge und einen
genügenden Grund für die vereinigten Flotten in die Dardanellenstraße einznsegeln,
zu betrachten. Bei der Wichtigkeit seiner Stellung mußte ihm jeder Vorwand
genommen werden, sich aus Rußlands Seite zu schlagen, wenn man nicht die
letzte Aussicht den Conflict friedlich beizulegen, aufgeben wollte. Man hat auch
wirklich bis jetzt ein näheres Anschließen Oestreichs an Rußland verhindert,
und scheint sogar noch mehr erreicht zu haben, als mau erwartet hat. Durch das
vorsichtige Benehmen des englischen Cabinets keck gemacht, geht Rußland in seinen
Forderungen soweit, daß es der verbündeten Flotte das offene Meer verschlie¬
ßen, und die Anwesenheit der Flotte in der Besikabncht als eine Occupation der
türkischen Gewässer darstellen will. Diese kecke Anmaßung scheint eine vollstän¬
dige Annäherung der andern Großmächte zur Folge gehabt zu haben, wie mehre
Anzeichen in der halbofficiellen Presse vermuthen lassen. Vorher waren sie schon
in London zusammengetreten, um in Se. Petersburg neue Vermittlungsvorschläge
zu machen. Der Inhalt derselben, der noch nicht genau bekannt ist, kann allein
die Frage entscheiden, ob die Politik Lord Aberdeens von dem Wunsche, die Un¬
abhängigkeit Europas' aufrecht zu erhalten oder vou der Nachgiebigkeit gegen die
Anmaßungen Rußlands und feiger Friedensliebe dictirt gewesen ist. Hält
man die verschiedenen Aeußerungen der Times darüber zusammen, so enthält der
Vermittlungsantrag eine Bestätigung der von Rußland ab -wriciuo genossenen
Rechte und weiter nichts, und eine Erweiterung der Privilegien der Christen in der
Türkei in Gemäßheit des letzten Fermans des Sultans, der gleich nach der Zu¬
rückweisung des Ultimatums erlassen wurde. Das ist scheinbar alles, was Nußland
verlangt, aber auch nnr scheinbar, denn die Gefahr liegt wol in dem, was Ru߬
land angestandenermaßen fordert, sondern in dem, was es als bereits vorhanden
voraussetzt, was aber durchaus uicht existirt. Es fordert der Form uach die Bestäti¬
gung der von Alters her besessenen Rechte, und es besitzt keine andern als die
ihm dnrch die Verträge von Kainardschi und Adrianopel zugesicherten der Ver¬
wendung für die Rechte der türkischen Christen, welche Verwendung der Sultan
zu berücksichtigen verspricht. Es behauptet aber in seiner Note als eine That¬
sache, deren Zugeständniß gar uicht mehr in der Macht des Sultans liege, das
Bestehen eines Protektorats des Zaren über die gesammte griechische Kirche,
während der Zar doch blos Oberhaupt über die griechische Kirche in seinen


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sowie die wenig wirksame Hilfe, welche die Seemächte der Pforte leisten konnten,
in Betracht zu.nehmen. Sie konnten blos das schwarze Meer frei halten und
der russischen Armee die Zufuhr zu Wasser abschneiden, was dieser allerdings das
Vorrücken gegen Konstantinopel erschweren, aber nicht verhindern kann. Dieses
wirksam zu thun, ist nur eine Macht im Stande, nämlich Oestreich, dessen In¬
teresse allerdings ein entschiedenes Auftreten gegen die gegenwärtigen Anmaßungen
Rußlands fordert, das aber anfangs nicht einmal geneigt gewesen zu sein scheint,
die Besetzung der Donaufürstenthümer als einen Bruch der Verträge und einen
genügenden Grund für die vereinigten Flotten in die Dardanellenstraße einznsegeln,
zu betrachten. Bei der Wichtigkeit seiner Stellung mußte ihm jeder Vorwand
genommen werden, sich aus Rußlands Seite zu schlagen, wenn man nicht die
letzte Aussicht den Conflict friedlich beizulegen, aufgeben wollte. Man hat auch
wirklich bis jetzt ein näheres Anschließen Oestreichs an Rußland verhindert,
und scheint sogar noch mehr erreicht zu haben, als mau erwartet hat. Durch das
vorsichtige Benehmen des englischen Cabinets keck gemacht, geht Rußland in seinen
Forderungen soweit, daß es der verbündeten Flotte das offene Meer verschlie¬
ßen, und die Anwesenheit der Flotte in der Besikabncht als eine Occupation der
türkischen Gewässer darstellen will. Diese kecke Anmaßung scheint eine vollstän¬
dige Annäherung der andern Großmächte zur Folge gehabt zu haben, wie mehre
Anzeichen in der halbofficiellen Presse vermuthen lassen. Vorher waren sie schon
in London zusammengetreten, um in Se. Petersburg neue Vermittlungsvorschläge
zu machen. Der Inhalt derselben, der noch nicht genau bekannt ist, kann allein
die Frage entscheiden, ob die Politik Lord Aberdeens von dem Wunsche, die Un¬
abhängigkeit Europas' aufrecht zu erhalten oder vou der Nachgiebigkeit gegen die
Anmaßungen Rußlands und feiger Friedensliebe dictirt gewesen ist. Hält
man die verschiedenen Aeußerungen der Times darüber zusammen, so enthält der
Vermittlungsantrag eine Bestätigung der von Rußland ab -wriciuo genossenen
Rechte und weiter nichts, und eine Erweiterung der Privilegien der Christen in der
Türkei in Gemäßheit des letzten Fermans des Sultans, der gleich nach der Zu¬
rückweisung des Ultimatums erlassen wurde. Das ist scheinbar alles, was Nußland
verlangt, aber auch nnr scheinbar, denn die Gefahr liegt wol in dem, was Ru߬
land angestandenermaßen fordert, sondern in dem, was es als bereits vorhanden
voraussetzt, was aber durchaus uicht existirt. Es fordert der Form uach die Bestäti¬
gung der von Alters her besessenen Rechte, und es besitzt keine andern als die
ihm dnrch die Verträge von Kainardschi und Adrianopel zugesicherten der Ver¬
wendung für die Rechte der türkischen Christen, welche Verwendung der Sultan
zu berücksichtigen verspricht. Es behauptet aber in seiner Note als eine That¬
sache, deren Zugeständniß gar uicht mehr in der Macht des Sultans liege, das
Bestehen eines Protektorats des Zaren über die gesammte griechische Kirche,
während der Zar doch blos Oberhaupt über die griechische Kirche in seinen


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[0195] sowie die wenig wirksame Hilfe, welche die Seemächte der Pforte leisten konnten, in Betracht zu.nehmen. Sie konnten blos das schwarze Meer frei halten und der russischen Armee die Zufuhr zu Wasser abschneiden, was dieser allerdings das Vorrücken gegen Konstantinopel erschweren, aber nicht verhindern kann. Dieses wirksam zu thun, ist nur eine Macht im Stande, nämlich Oestreich, dessen In¬ teresse allerdings ein entschiedenes Auftreten gegen die gegenwärtigen Anmaßungen Rußlands fordert, das aber anfangs nicht einmal geneigt gewesen zu sein scheint, die Besetzung der Donaufürstenthümer als einen Bruch der Verträge und einen genügenden Grund für die vereinigten Flotten in die Dardanellenstraße einznsegeln, zu betrachten. Bei der Wichtigkeit seiner Stellung mußte ihm jeder Vorwand genommen werden, sich aus Rußlands Seite zu schlagen, wenn man nicht die letzte Aussicht den Conflict friedlich beizulegen, aufgeben wollte. Man hat auch wirklich bis jetzt ein näheres Anschließen Oestreichs an Rußland verhindert, und scheint sogar noch mehr erreicht zu haben, als mau erwartet hat. Durch das vorsichtige Benehmen des englischen Cabinets keck gemacht, geht Rußland in seinen Forderungen soweit, daß es der verbündeten Flotte das offene Meer verschlie¬ ßen, und die Anwesenheit der Flotte in der Besikabncht als eine Occupation der türkischen Gewässer darstellen will. Diese kecke Anmaßung scheint eine vollstän¬ dige Annäherung der andern Großmächte zur Folge gehabt zu haben, wie mehre Anzeichen in der halbofficiellen Presse vermuthen lassen. Vorher waren sie schon in London zusammengetreten, um in Se. Petersburg neue Vermittlungsvorschläge zu machen. Der Inhalt derselben, der noch nicht genau bekannt ist, kann allein die Frage entscheiden, ob die Politik Lord Aberdeens von dem Wunsche, die Un¬ abhängigkeit Europas' aufrecht zu erhalten oder vou der Nachgiebigkeit gegen die Anmaßungen Rußlands und feiger Friedensliebe dictirt gewesen ist. Hält man die verschiedenen Aeußerungen der Times darüber zusammen, so enthält der Vermittlungsantrag eine Bestätigung der von Rußland ab -wriciuo genossenen Rechte und weiter nichts, und eine Erweiterung der Privilegien der Christen in der Türkei in Gemäßheit des letzten Fermans des Sultans, der gleich nach der Zu¬ rückweisung des Ultimatums erlassen wurde. Das ist scheinbar alles, was Nußland verlangt, aber auch nnr scheinbar, denn die Gefahr liegt wol in dem, was Ru߬ land angestandenermaßen fordert, sondern in dem, was es als bereits vorhanden voraussetzt, was aber durchaus uicht existirt. Es fordert der Form uach die Bestäti¬ gung der von Alters her besessenen Rechte, und es besitzt keine andern als die ihm dnrch die Verträge von Kainardschi und Adrianopel zugesicherten der Ver¬ wendung für die Rechte der türkischen Christen, welche Verwendung der Sultan zu berücksichtigen verspricht. Es behauptet aber in seiner Note als eine That¬ sache, deren Zugeständniß gar uicht mehr in der Macht des Sultans liege, das Bestehen eines Protektorats des Zaren über die gesammte griechische Kirche, während der Zar doch blos Oberhaupt über die griechische Kirche in seinen 2i*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/195>, abgerufen am 01.07.2024.