Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Bei dem Verhalten des englischen Ministeriums in der orientalischen Frage
sind drei verschiedene Ereignisse als bestimmende zu betrachtn: die ursprüngliche
Sendung des Fürsten Menschikoff nach Konstantinopel; die plötzliche Steigerung
der Forderungen desselben, sein Ultimatum und die russische Note v. -II. Juni;
endlich das Einrücken der Nüssen in die Donaufürstenthümer. Wie jetzt allgemein
anerkannt ist, hatte die Sendung des Fürsten Menschikoff anfangs nur den Zweck,
die Verletzungen wiederherzustellen, welche die unter Rußlands Schutz gestellten
Privilegien der griechischen Kirche an den heiligen Orten durch Herrn von Lavalette
zu Gunsten der Römisch-Katholischen gemachten Concessionen erlitten hatte. Da
England, wie jeder Billige, die vollständige Berechtigung dieser Forderungen an¬
erkennen mußte, so billigte und unterstützte sie dieselben sogar, und ließ die fran¬
zösische Flotte allein nach den griechischen Gewässern segeln, da es sich hier um
ein bloßes Paradepferd der französischen Diplomatie handelte. Als aber die
Pforte die ersten Forderungen Meuschikoffs bewilligt hatte, trat er plötzlich mit
ganz neuen hervor, die nicht einmal Herrn von Brünnow in London bekannt
waren, sondern von denen das englische Cabinet erst durch seinen Gesandten in
Konstantinopel Nachricht erhielt. Sie gingen darauf hinaus, daß die Pforte den
Kaiser von Rußland förmlich als Vertreter der gesammten griechischen Kirche
anerkenne, und im Fall der Nichtgewährnng des Verlangten mit weitern Maßregeln
bedroht wurde. Jetzt vereinigte sich das englische Cabinet sofort mit dem französischen,
und die Flotten der beiden Mächte ankerten in der Besikabucht, um erforderliche"
Falles in die Dardanellen einlaufen zu können. Die inzwischen angestellten Ver¬
mittlungsversuche führten jedoch zu nichts, und die Russen rückten in die Donau-
fürstenthümer ein, eine offene Verletzung der bestehenden Verträge, denn der
Vertrag von Balta-Liman gibt den Russen blos das Recht, die Donaufürsten-
thümer im Fall innerer Unruhen gemeinschaftlich mit den türkischen Truppen zu>
besetze", um die Souveränetät des Sultans daselbst aufrecht zu erhalten, uicht
aber ihre militärische Lage zu benutzen, um selbst Augriffe auf die Souveräne¬
tät der Pforte zu machen. Nach sehr vieler Leute Meinung ist es nun ein
schlagender Beweis von der Kraftlosigkeit des englischen Cabinets und seinem
geringen Ernste, der Pforte wirksam Beistand zu leisten, daß die vereinigte Flotte
nicht sofort in die Dardanellc" segelte, wozu sie durch Rußlands völkerrechts¬
widriges Vorgehen vollkommen berechtigt war. Dies scheint uus eine etwas ein¬
seitige Auffassung der Sachlage zu sein. Der Zweck von Englands Politik war
nicht, die Türkei und Nußland miteinander in Kieg zu verwickeln, der wahr¬
scheinlich bald ein allgemeiner europäischer geworden wäre, sondern die Unab-
hängigkeit der Türkei gegen Rußlands einseitiges Vorgehen zu schütze". Es nur
im äußersten Falle zum Krieg komme" z" lasse", schrieben jedenfalls vielfache Rück¬
sichten vor. Ganz abgesehen von den großen Interesse" der Civilisation, die
dabei i" Frage komme", war die äußerst geringe Widerstandskraft der Türkei,


Bei dem Verhalten des englischen Ministeriums in der orientalischen Frage
sind drei verschiedene Ereignisse als bestimmende zu betrachtn: die ursprüngliche
Sendung des Fürsten Menschikoff nach Konstantinopel; die plötzliche Steigerung
der Forderungen desselben, sein Ultimatum und die russische Note v. -II. Juni;
endlich das Einrücken der Nüssen in die Donaufürstenthümer. Wie jetzt allgemein
anerkannt ist, hatte die Sendung des Fürsten Menschikoff anfangs nur den Zweck,
die Verletzungen wiederherzustellen, welche die unter Rußlands Schutz gestellten
Privilegien der griechischen Kirche an den heiligen Orten durch Herrn von Lavalette
zu Gunsten der Römisch-Katholischen gemachten Concessionen erlitten hatte. Da
England, wie jeder Billige, die vollständige Berechtigung dieser Forderungen an¬
erkennen mußte, so billigte und unterstützte sie dieselben sogar, und ließ die fran¬
zösische Flotte allein nach den griechischen Gewässern segeln, da es sich hier um
ein bloßes Paradepferd der französischen Diplomatie handelte. Als aber die
Pforte die ersten Forderungen Meuschikoffs bewilligt hatte, trat er plötzlich mit
ganz neuen hervor, die nicht einmal Herrn von Brünnow in London bekannt
waren, sondern von denen das englische Cabinet erst durch seinen Gesandten in
Konstantinopel Nachricht erhielt. Sie gingen darauf hinaus, daß die Pforte den
Kaiser von Rußland förmlich als Vertreter der gesammten griechischen Kirche
anerkenne, und im Fall der Nichtgewährnng des Verlangten mit weitern Maßregeln
bedroht wurde. Jetzt vereinigte sich das englische Cabinet sofort mit dem französischen,
und die Flotten der beiden Mächte ankerten in der Besikabucht, um erforderliche»
Falles in die Dardanellen einlaufen zu können. Die inzwischen angestellten Ver¬
mittlungsversuche führten jedoch zu nichts, und die Russen rückten in die Donau-
fürstenthümer ein, eine offene Verletzung der bestehenden Verträge, denn der
Vertrag von Balta-Liman gibt den Russen blos das Recht, die Donaufürsten-
thümer im Fall innerer Unruhen gemeinschaftlich mit den türkischen Truppen zu>
besetze», um die Souveränetät des Sultans daselbst aufrecht zu erhalten, uicht
aber ihre militärische Lage zu benutzen, um selbst Augriffe auf die Souveräne¬
tät der Pforte zu machen. Nach sehr vieler Leute Meinung ist es nun ein
schlagender Beweis von der Kraftlosigkeit des englischen Cabinets und seinem
geringen Ernste, der Pforte wirksam Beistand zu leisten, daß die vereinigte Flotte
nicht sofort in die Dardanellc» segelte, wozu sie durch Rußlands völkerrechts¬
widriges Vorgehen vollkommen berechtigt war. Dies scheint uus eine etwas ein¬
seitige Auffassung der Sachlage zu sein. Der Zweck von Englands Politik war
nicht, die Türkei und Nußland miteinander in Kieg zu verwickeln, der wahr¬
scheinlich bald ein allgemeiner europäischer geworden wäre, sondern die Unab-
hängigkeit der Türkei gegen Rußlands einseitiges Vorgehen zu schütze». Es nur
im äußersten Falle zum Krieg komme» z» lasse», schrieben jedenfalls vielfache Rück¬
sichten vor. Ganz abgesehen von den großen Interesse» der Civilisation, die
dabei i» Frage komme», war die äußerst geringe Widerstandskraft der Türkei,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96369"/>
              <p xml:id="ID_634" next="#ID_635"> Bei dem Verhalten des englischen Ministeriums in der orientalischen Frage<lb/>
sind drei verschiedene Ereignisse als bestimmende zu betrachtn: die ursprüngliche<lb/>
Sendung des Fürsten Menschikoff nach Konstantinopel; die plötzliche Steigerung<lb/>
der Forderungen desselben, sein Ultimatum und die russische Note v. -II. Juni;<lb/>
endlich das Einrücken der Nüssen in die Donaufürstenthümer. Wie jetzt allgemein<lb/>
anerkannt ist, hatte die Sendung des Fürsten Menschikoff anfangs nur den Zweck,<lb/>
die Verletzungen wiederherzustellen, welche die unter Rußlands Schutz gestellten<lb/>
Privilegien der griechischen Kirche an den heiligen Orten durch Herrn von Lavalette<lb/>
zu Gunsten der Römisch-Katholischen gemachten Concessionen erlitten hatte. Da<lb/>
England, wie jeder Billige, die vollständige Berechtigung dieser Forderungen an¬<lb/>
erkennen mußte, so billigte und unterstützte sie dieselben sogar, und ließ die fran¬<lb/>
zösische Flotte allein nach den griechischen Gewässern segeln, da es sich hier um<lb/>
ein bloßes Paradepferd der französischen Diplomatie handelte. Als aber die<lb/>
Pforte die ersten Forderungen Meuschikoffs bewilligt hatte, trat er plötzlich mit<lb/>
ganz neuen hervor, die nicht einmal Herrn von Brünnow in London bekannt<lb/>
waren, sondern von denen das englische Cabinet erst durch seinen Gesandten in<lb/>
Konstantinopel Nachricht erhielt. Sie gingen darauf hinaus, daß die Pforte den<lb/>
Kaiser von Rußland förmlich als Vertreter der gesammten griechischen Kirche<lb/>
anerkenne, und im Fall der Nichtgewährnng des Verlangten mit weitern Maßregeln<lb/>
bedroht wurde. Jetzt vereinigte sich das englische Cabinet sofort mit dem französischen,<lb/>
und die Flotten der beiden Mächte ankerten in der Besikabucht, um erforderliche»<lb/>
Falles in die Dardanellen einlaufen zu können. Die inzwischen angestellten Ver¬<lb/>
mittlungsversuche führten jedoch zu nichts, und die Russen rückten in die Donau-<lb/>
fürstenthümer ein, eine offene Verletzung der bestehenden Verträge, denn der<lb/>
Vertrag von Balta-Liman gibt den Russen blos das Recht, die Donaufürsten-<lb/>
thümer im Fall innerer Unruhen gemeinschaftlich mit den türkischen Truppen zu&gt;<lb/>
besetze», um die Souveränetät des Sultans daselbst aufrecht zu erhalten, uicht<lb/>
aber ihre militärische Lage zu benutzen, um selbst Augriffe auf die Souveräne¬<lb/>
tät der Pforte zu machen. Nach sehr vieler Leute Meinung ist es nun ein<lb/>
schlagender Beweis von der Kraftlosigkeit des englischen Cabinets und seinem<lb/>
geringen Ernste, der Pforte wirksam Beistand zu leisten, daß die vereinigte Flotte<lb/>
nicht sofort in die Dardanellc» segelte, wozu sie durch Rußlands völkerrechts¬<lb/>
widriges Vorgehen vollkommen berechtigt war. Dies scheint uus eine etwas ein¬<lb/>
seitige Auffassung der Sachlage zu sein. Der Zweck von Englands Politik war<lb/>
nicht, die Türkei und Nußland miteinander in Kieg zu verwickeln, der wahr¬<lb/>
scheinlich bald ein allgemeiner europäischer geworden wäre, sondern die Unab-<lb/>
hängigkeit der Türkei gegen Rußlands einseitiges Vorgehen zu schütze». Es nur<lb/>
im äußersten Falle zum Krieg komme» z» lasse», schrieben jedenfalls vielfache Rück¬<lb/>
sichten vor. Ganz abgesehen von den großen Interesse» der Civilisation, die<lb/>
dabei i» Frage komme», war die äußerst geringe Widerstandskraft der Türkei,</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0194] Bei dem Verhalten des englischen Ministeriums in der orientalischen Frage sind drei verschiedene Ereignisse als bestimmende zu betrachtn: die ursprüngliche Sendung des Fürsten Menschikoff nach Konstantinopel; die plötzliche Steigerung der Forderungen desselben, sein Ultimatum und die russische Note v. -II. Juni; endlich das Einrücken der Nüssen in die Donaufürstenthümer. Wie jetzt allgemein anerkannt ist, hatte die Sendung des Fürsten Menschikoff anfangs nur den Zweck, die Verletzungen wiederherzustellen, welche die unter Rußlands Schutz gestellten Privilegien der griechischen Kirche an den heiligen Orten durch Herrn von Lavalette zu Gunsten der Römisch-Katholischen gemachten Concessionen erlitten hatte. Da England, wie jeder Billige, die vollständige Berechtigung dieser Forderungen an¬ erkennen mußte, so billigte und unterstützte sie dieselben sogar, und ließ die fran¬ zösische Flotte allein nach den griechischen Gewässern segeln, da es sich hier um ein bloßes Paradepferd der französischen Diplomatie handelte. Als aber die Pforte die ersten Forderungen Meuschikoffs bewilligt hatte, trat er plötzlich mit ganz neuen hervor, die nicht einmal Herrn von Brünnow in London bekannt waren, sondern von denen das englische Cabinet erst durch seinen Gesandten in Konstantinopel Nachricht erhielt. Sie gingen darauf hinaus, daß die Pforte den Kaiser von Rußland förmlich als Vertreter der gesammten griechischen Kirche anerkenne, und im Fall der Nichtgewährnng des Verlangten mit weitern Maßregeln bedroht wurde. Jetzt vereinigte sich das englische Cabinet sofort mit dem französischen, und die Flotten der beiden Mächte ankerten in der Besikabucht, um erforderliche» Falles in die Dardanellen einlaufen zu können. Die inzwischen angestellten Ver¬ mittlungsversuche führten jedoch zu nichts, und die Russen rückten in die Donau- fürstenthümer ein, eine offene Verletzung der bestehenden Verträge, denn der Vertrag von Balta-Liman gibt den Russen blos das Recht, die Donaufürsten- thümer im Fall innerer Unruhen gemeinschaftlich mit den türkischen Truppen zu> besetze», um die Souveränetät des Sultans daselbst aufrecht zu erhalten, uicht aber ihre militärische Lage zu benutzen, um selbst Augriffe auf die Souveräne¬ tät der Pforte zu machen. Nach sehr vieler Leute Meinung ist es nun ein schlagender Beweis von der Kraftlosigkeit des englischen Cabinets und seinem geringen Ernste, der Pforte wirksam Beistand zu leisten, daß die vereinigte Flotte nicht sofort in die Dardanellc» segelte, wozu sie durch Rußlands völkerrechts¬ widriges Vorgehen vollkommen berechtigt war. Dies scheint uus eine etwas ein¬ seitige Auffassung der Sachlage zu sein. Der Zweck von Englands Politik war nicht, die Türkei und Nußland miteinander in Kieg zu verwickeln, der wahr¬ scheinlich bald ein allgemeiner europäischer geworden wäre, sondern die Unab- hängigkeit der Türkei gegen Rußlands einseitiges Vorgehen zu schütze». Es nur im äußersten Falle zum Krieg komme» z» lasse», schrieben jedenfalls vielfache Rück¬ sichten vor. Ganz abgesehen von den großen Interesse» der Civilisation, die dabei i» Frage komme», war die äußerst geringe Widerstandskraft der Türkei,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/194
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/194>, abgerufen am 01.07.2024.