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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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wahrhaft deutschem Geiste heraus gesprochein Wenn er aber von der französi¬
schen Kolonie seiner Vaterstadt sagte, daß sie mit dem gallischen Leichtsinn anch
die gallische Kühnheit etwas abgelegt habe, so hat er sich von beiden ein reich¬
liches Theil erhalten. Und auch dazu ein fröhliches Glückaus!




Bemerkungen über die neueste deutsehe Philosophie.
Versuch zur Verständigung über die neueste deutsche Philosophie seit Kant. Von
H. Ritter. Braunschweig, Schwetschke und Sohn. --
Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes. Eine philosophische Trilogie.
Herausgegeben von Michelet, Drittes Gespräch : über die Zukunft der Mensch¬
heit und die Unsterblichkeit der Seele oder die Lehre von den letzte" Dingen.
Berlin, Schneider und Comp.

Es wird sich niemand der Wahrnehmung verschließen können, daß seit dem
letzten Jahrzehnt die Stellung und Bedeutung der Philosophie eine ganz andere
geworden ist. Schon in den Jahren 1843 und 44 konnte man bei der baby¬
lonischen Verwirrung, die unter der philosophischen Jugend ausbrach, bei der
Heftigkeit, mit welcher sie ihre Standpunkte wechselte, voraussehen, daß in die Philoso¬
phie, die so lange Zeit hindurch die Wissenschaft fast ausschließlich beherrscht hatte, ein
Gährungsproccß eingetreten sei, der alle bisher anscheinend gewonnenen Resultate
in Frage stellte. Die Zeit der Berliner, der Hallischen, der deutschen und der
deutsch-französischen Jahrbücher war vorüber, die Philosophie war nicht mehr eine
Massenbewegung, die in freudigem Sicgestaumel das Bestehende überfluthete^
sondern eine traurige Zerrüttung, in der sich immer eine Hand wider die andere
aufhob. Nur noch ein Versuch wurde gemacht, die zersprengten Freicorps der
Hegelianer wieder zu sammeln "ut zu ordnen. Es war das die Berliner philo¬
sophische Gesellschaft, die zu gewissen Perioden zusammenkam, um über denThat-,
bestand der philosophischen Errungenschaften zu disputiren und die ihre Sitzungs¬
protokolle in der damals neu begründeten Zeitschrift von Noack veröffentlichte.
Das thätigste Mitglied dieser Gesellschaft war Herr Michelet, der Verfasser des
zweiten der von uns angeführten Bücher. In diesem Buche, in der dialogischen
Form desselben und in der beständigen Beziehung ans das System, aus welchem
alle Beweisgründe für und wider hergeleitet werden, weht noch der alte Geist
der philosophische" Gesellschaft, und eS ist ganz merkwürdig, wie fremd uns dieser
schon in der kurze" Zeit geworden ist. Es ist, als ob darin eine uns ganz fremde
Sprache geredet würde, die wir wol vermittelst unserer alten Reminiscenzen noch
übersetze", in der wir aber nicht mehr denken können.


wahrhaft deutschem Geiste heraus gesprochein Wenn er aber von der französi¬
schen Kolonie seiner Vaterstadt sagte, daß sie mit dem gallischen Leichtsinn anch
die gallische Kühnheit etwas abgelegt habe, so hat er sich von beiden ein reich¬
liches Theil erhalten. Und auch dazu ein fröhliches Glückaus!




Bemerkungen über die neueste deutsehe Philosophie.
Versuch zur Verständigung über die neueste deutsche Philosophie seit Kant. Von
H. Ritter. Braunschweig, Schwetschke und Sohn. —
Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes. Eine philosophische Trilogie.
Herausgegeben von Michelet, Drittes Gespräch : über die Zukunft der Mensch¬
heit und die Unsterblichkeit der Seele oder die Lehre von den letzte» Dingen.
Berlin, Schneider und Comp.

Es wird sich niemand der Wahrnehmung verschließen können, daß seit dem
letzten Jahrzehnt die Stellung und Bedeutung der Philosophie eine ganz andere
geworden ist. Schon in den Jahren 1843 und 44 konnte man bei der baby¬
lonischen Verwirrung, die unter der philosophischen Jugend ausbrach, bei der
Heftigkeit, mit welcher sie ihre Standpunkte wechselte, voraussehen, daß in die Philoso¬
phie, die so lange Zeit hindurch die Wissenschaft fast ausschließlich beherrscht hatte, ein
Gährungsproccß eingetreten sei, der alle bisher anscheinend gewonnenen Resultate
in Frage stellte. Die Zeit der Berliner, der Hallischen, der deutschen und der
deutsch-französischen Jahrbücher war vorüber, die Philosophie war nicht mehr eine
Massenbewegung, die in freudigem Sicgestaumel das Bestehende überfluthete^
sondern eine traurige Zerrüttung, in der sich immer eine Hand wider die andere
aufhob. Nur noch ein Versuch wurde gemacht, die zersprengten Freicorps der
Hegelianer wieder zu sammeln »ut zu ordnen. Es war das die Berliner philo¬
sophische Gesellschaft, die zu gewissen Perioden zusammenkam, um über denThat-,
bestand der philosophischen Errungenschaften zu disputiren und die ihre Sitzungs¬
protokolle in der damals neu begründeten Zeitschrift von Noack veröffentlichte.
Das thätigste Mitglied dieser Gesellschaft war Herr Michelet, der Verfasser des
zweiten der von uns angeführten Bücher. In diesem Buche, in der dialogischen
Form desselben und in der beständigen Beziehung ans das System, aus welchem
alle Beweisgründe für und wider hergeleitet werden, weht noch der alte Geist
der philosophische» Gesellschaft, und eS ist ganz merkwürdig, wie fremd uns dieser
schon in der kurze» Zeit geworden ist. Es ist, als ob darin eine uns ganz fremde
Sprache geredet würde, die wir wol vermittelst unserer alten Reminiscenzen noch
übersetze», in der wir aber nicht mehr denken können.


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[0138] wahrhaft deutschem Geiste heraus gesprochein Wenn er aber von der französi¬ schen Kolonie seiner Vaterstadt sagte, daß sie mit dem gallischen Leichtsinn anch die gallische Kühnheit etwas abgelegt habe, so hat er sich von beiden ein reich¬ liches Theil erhalten. Und auch dazu ein fröhliches Glückaus! Bemerkungen über die neueste deutsehe Philosophie. Versuch zur Verständigung über die neueste deutsche Philosophie seit Kant. Von H. Ritter. Braunschweig, Schwetschke und Sohn. — Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes. Eine philosophische Trilogie. Herausgegeben von Michelet, Drittes Gespräch : über die Zukunft der Mensch¬ heit und die Unsterblichkeit der Seele oder die Lehre von den letzte» Dingen. Berlin, Schneider und Comp. Es wird sich niemand der Wahrnehmung verschließen können, daß seit dem letzten Jahrzehnt die Stellung und Bedeutung der Philosophie eine ganz andere geworden ist. Schon in den Jahren 1843 und 44 konnte man bei der baby¬ lonischen Verwirrung, die unter der philosophischen Jugend ausbrach, bei der Heftigkeit, mit welcher sie ihre Standpunkte wechselte, voraussehen, daß in die Philoso¬ phie, die so lange Zeit hindurch die Wissenschaft fast ausschließlich beherrscht hatte, ein Gährungsproccß eingetreten sei, der alle bisher anscheinend gewonnenen Resultate in Frage stellte. Die Zeit der Berliner, der Hallischen, der deutschen und der deutsch-französischen Jahrbücher war vorüber, die Philosophie war nicht mehr eine Massenbewegung, die in freudigem Sicgestaumel das Bestehende überfluthete^ sondern eine traurige Zerrüttung, in der sich immer eine Hand wider die andere aufhob. Nur noch ein Versuch wurde gemacht, die zersprengten Freicorps der Hegelianer wieder zu sammeln »ut zu ordnen. Es war das die Berliner philo¬ sophische Gesellschaft, die zu gewissen Perioden zusammenkam, um über denThat-, bestand der philosophischen Errungenschaften zu disputiren und die ihre Sitzungs¬ protokolle in der damals neu begründeten Zeitschrift von Noack veröffentlichte. Das thätigste Mitglied dieser Gesellschaft war Herr Michelet, der Verfasser des zweiten der von uns angeführten Bücher. In diesem Buche, in der dialogischen Form desselben und in der beständigen Beziehung ans das System, aus welchem alle Beweisgründe für und wider hergeleitet werden, weht noch der alte Geist der philosophische» Gesellschaft, und eS ist ganz merkwürdig, wie fremd uns dieser schon in der kurze» Zeit geworden ist. Es ist, als ob darin eine uns ganz fremde Sprache geredet würde, die wir wol vermittelst unserer alten Reminiscenzen noch übersetze», in der wir aber nicht mehr denken können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/138>, abgerufen am 23.07.2024.