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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band.

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vorbereitet ist. Eine Unterstützung der Tscherkessen durch die Engländer und
selbst eine Niederlage der russischen Flotte würde die Entscheidung nicht wesentlich
aufhalten, die doch zuletzt immer durch den Landkrieg erfolgen muß. Auf diesen
Umstand scheint sich also die Berechnung Rußlands zu gründen, daß die Türkei
doch bald nachgeben müsse, da sie den Andrang in das Herz ihrer Reichs nicht
aufhalten könne.

Nun könnte freilich die Sache dadurch geändert werden, daß England einen
Offensivkrieg gegen Rußland auf der Ostsee anfängt. Unter diesen Umständen,
die eine Veränderung des englischen Cabinets und ein innigeres Verständniß
zwischen Frankreich und England voraussetzen, würden allerdings auch die deut¬
schen Mächte sich der Theilnahme am Kampf nicht länger enthalten können.

Vorläufig aber wäre die zweckmäßigste Politik, die Oestreich, Preußen und
der deutsche Bund beobachten können, eine bewaffnete Neutralität, der sich auch
Holland, Belgien und die italienischen Staaten anschließen würden. Eine solche
Neutralität eine Zeitlang hindurch ernsthaft durchgeführt, würde jene Eman¬
cipation Deutschlands von Rußland anbahnen, die wir als das Hauptziel der
deutschen Politik aufgestellt haben. Und zu unserer großen Genugthuung steht
es in der That so aus, als ob die deutschen Mächte so etwas im Sinne hätten,
wenigstens wird von den Blättern, die sonst im Sinne Oestreichs sprechen, ein
allmäliger Abfall ans dem Lager der heiligen Kirche deutlich genug angedeutet, und
es ist in ganz Deutschland gegenwärtig nur eine Partei, die mit Nußland geht,
die Partei des Herrn von Gerlach und der Kreuzzeitung.

Vorläufig hat nur ein Mann von dieser Lage der Dinge Nutzen gezogen,
der Kaiser der Franzosen. Noch vor einem halben Jahre zogen sich alle euro¬
päischen Mächte scheu vor ihm zurück und machten Demonstrationen gegen ihn,
heute sucht bereits England seine Freundschaft, und anch die deutscheu Mächte
werden sich allmälig veranlaßt sehen, größere Rücksichten gegen ihn zu beobachten.
Dabei darf man nicht vergessen, daß er es eigentlich ist, der die Situation herbei¬
geführt hat. Denn die Intriguen seines Botschafters haben die hohe Pforte ver¬
anlaßt, ihm jenen verhängnißvollen Schlüssel zum heiligen Grabe auszuliefern,
diese Auslieferung aber war die Veranlassung zu der Sendung des Fürsten
Menschikoff, und so sah sich denn Louis Napoleon in der günstigen Lage, als
Beschützer der Türkei aufzutreten, während er doch den Angriff gegen sie pro¬
vocirt hatte. Kommt es nun wirklich zum Kriege, und entwickelt er in der That
Feldherrntalente, was nach den neulichen Exercitien gar nicht unmöglich ist, so ist
er dadurch in eine so günstige Stellung zur Nation gekommen, wie nur irgend
ein Monarch in Enropa. Dann wird niemand mehr leugnen, daß die sogenannten
conservativen Interessen, für deren Solidarität man früher geschwärmt hat, durch
niemand einen so argen Stoß erhalten haben, als durch die conservativstc aller
Mächte, durch das "heilige Rußland".




vorbereitet ist. Eine Unterstützung der Tscherkessen durch die Engländer und
selbst eine Niederlage der russischen Flotte würde die Entscheidung nicht wesentlich
aufhalten, die doch zuletzt immer durch den Landkrieg erfolgen muß. Auf diesen
Umstand scheint sich also die Berechnung Rußlands zu gründen, daß die Türkei
doch bald nachgeben müsse, da sie den Andrang in das Herz ihrer Reichs nicht
aufhalten könne.

Nun könnte freilich die Sache dadurch geändert werden, daß England einen
Offensivkrieg gegen Rußland auf der Ostsee anfängt. Unter diesen Umständen,
die eine Veränderung des englischen Cabinets und ein innigeres Verständniß
zwischen Frankreich und England voraussetzen, würden allerdings auch die deut¬
schen Mächte sich der Theilnahme am Kampf nicht länger enthalten können.

Vorläufig aber wäre die zweckmäßigste Politik, die Oestreich, Preußen und
der deutsche Bund beobachten können, eine bewaffnete Neutralität, der sich auch
Holland, Belgien und die italienischen Staaten anschließen würden. Eine solche
Neutralität eine Zeitlang hindurch ernsthaft durchgeführt, würde jene Eman¬
cipation Deutschlands von Rußland anbahnen, die wir als das Hauptziel der
deutschen Politik aufgestellt haben. Und zu unserer großen Genugthuung steht
es in der That so aus, als ob die deutschen Mächte so etwas im Sinne hätten,
wenigstens wird von den Blättern, die sonst im Sinne Oestreichs sprechen, ein
allmäliger Abfall ans dem Lager der heiligen Kirche deutlich genug angedeutet, und
es ist in ganz Deutschland gegenwärtig nur eine Partei, die mit Nußland geht,
die Partei des Herrn von Gerlach und der Kreuzzeitung.

Vorläufig hat nur ein Mann von dieser Lage der Dinge Nutzen gezogen,
der Kaiser der Franzosen. Noch vor einem halben Jahre zogen sich alle euro¬
päischen Mächte scheu vor ihm zurück und machten Demonstrationen gegen ihn,
heute sucht bereits England seine Freundschaft, und anch die deutscheu Mächte
werden sich allmälig veranlaßt sehen, größere Rücksichten gegen ihn zu beobachten.
Dabei darf man nicht vergessen, daß er es eigentlich ist, der die Situation herbei¬
geführt hat. Denn die Intriguen seines Botschafters haben die hohe Pforte ver¬
anlaßt, ihm jenen verhängnißvollen Schlüssel zum heiligen Grabe auszuliefern,
diese Auslieferung aber war die Veranlassung zu der Sendung des Fürsten
Menschikoff, und so sah sich denn Louis Napoleon in der günstigen Lage, als
Beschützer der Türkei aufzutreten, während er doch den Angriff gegen sie pro¬
vocirt hatte. Kommt es nun wirklich zum Kriege, und entwickelt er in der That
Feldherrntalente, was nach den neulichen Exercitien gar nicht unmöglich ist, so ist
er dadurch in eine so günstige Stellung zur Nation gekommen, wie nur irgend
ein Monarch in Enropa. Dann wird niemand mehr leugnen, daß die sogenannten
conservativen Interessen, für deren Solidarität man früher geschwärmt hat, durch
niemand einen so argen Stoß erhalten haben, als durch die conservativstc aller
Mächte, durch das „heilige Rußland".




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96174/117>, abgerufen am 03.07.2024.