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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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empfindet, und daß er z" seine" Gestalten, in denen er diese Ideen versinnlicht,
jene innige Liebe hat, die den wahren Dichter charakterisirt, so sollte man glauben,
das! alle Elemente eines vortrefflichen Kunstwerks in ihm vorhanden wären. Und
doch fehlt etwas darin. Ein Jeder, der nul'efangen und mit gesunden Sinnen
an die Lecture seiner Werte geht, wird trotz aller Bewunderung vor dem Talent
des Dichters sich des Gefühls einer gewissen Verstimmung nicht erwehren können.
Die Weltanschauung, die ihm der Dichter eröffnet, wird ihn nicht befriedigen,
ja er wird znlejzt Ermüdung und Erschlaffung fühlen.

Es ist nicht leicht, das, was ihm fehlt, in einem einzelnen Ausdruck zu¬
sammenzufassen; indeß glauben wir nicht mißverstanden zu werden, wenn wir es
den künstlerischen Idealismus nennen.

Wir sind in unsrer Tagen allzu geneigt, aus Abneigung gegen deu ober¬
flächlichen, auf conventionellen Vorstellungen beruhenden Idealismus der franzö-
sischen Kunstperiode uns mit einem Kunstwerk vollkommen zufrieden zu erklären,
wenn es die Natur getreu wiedergiebt. .Es ist das ein großer Irrthum. Das
wirkliche Leben in seiner vollen Ausdehnung und in seiner Vielseitigkeit reicht
nicht nur für die Kunst uicht ans, sondern es gehört gar nicht hinein. Das
klingt paradox, aber bei einigem Nachdenken wird man sich davon überzeugen.
Man hat ja auch neuerdings in der plastischen Kunst versucht, Scenen aus dem wirk¬
lichen Leben darzustellen, mit allem möglichen Aufwand technischer Mittel; es hat aber
doch keine Wirkung gethan, wahrend die alten Maler mit ihren einfachen Mitteln,
weil sie Ideale darstellten, noch immer die allgemeine Bewunderung erregen. Wir
nehmen die Genremaler davon gar nicht ans, denn die humoristische Idealität ist
auch eine Idealität. Ein Kunstwerk, welches uns die getreuesten Studien nach
der Natur giebt, beschäftigt wol unsren Verstand, vielleicht auch unsre Phan¬
tasie, aber wir eilen ungeduldig weiter und fragen bei jeder neuen Seite, wann
wird "um das eigentliche Kunstwerk anfangen? Jeder möge seine eigene Er¬
fahrung prüfen, ob er nicht selbst so empfunden hat. -- Ja wir gehen noch
weiter. I" d^- läßt man sich durch das Gefühl der Uebereinstimmung
und Frende ^ einem Dichterwerk täuschen, und glaubt darin den reinsten Realis¬
mus zu haben, während doch die Realität dem Dichter nur als roher Stoff
gedient hat. So geht es z. B. den meisten Lesern mit Dickens; sie glauben in
ihm den reinsten Spiegel der Wirklichkeit zu haben, weil seine Schilderungen und
Darstellungen auf das Gemüth einwirken und einen bestimmten, in der Regel
befriedigenden Eindruck hervorbringen, und doch ist bei Dickens vou reinem
Realismus gar nicht die Rede. Abgesehen von den groben Verstößen gegen die
Wirklichkeit, die er aller Angenblicke begeht, die wir aber übersehen, weil sie die
poetische Stimmung uicht alteriren, zeigt er eigentlich überall, wo er an eine
Dmstellnng des gemeinen wirklichen Lebens geht, einen überraschenden Mangel an
Talent. So in seinen GcrichtSscencu, in seiner Beschreibung der Armenschnle u.s.w.


empfindet, und daß er z» seine» Gestalten, in denen er diese Ideen versinnlicht,
jene innige Liebe hat, die den wahren Dichter charakterisirt, so sollte man glauben,
das! alle Elemente eines vortrefflichen Kunstwerks in ihm vorhanden wären. Und
doch fehlt etwas darin. Ein Jeder, der nul'efangen und mit gesunden Sinnen
an die Lecture seiner Werte geht, wird trotz aller Bewunderung vor dem Talent
des Dichters sich des Gefühls einer gewissen Verstimmung nicht erwehren können.
Die Weltanschauung, die ihm der Dichter eröffnet, wird ihn nicht befriedigen,
ja er wird znlejzt Ermüdung und Erschlaffung fühlen.

Es ist nicht leicht, das, was ihm fehlt, in einem einzelnen Ausdruck zu¬
sammenzufassen; indeß glauben wir nicht mißverstanden zu werden, wenn wir es
den künstlerischen Idealismus nennen.

Wir sind in unsrer Tagen allzu geneigt, aus Abneigung gegen deu ober¬
flächlichen, auf conventionellen Vorstellungen beruhenden Idealismus der franzö-
sischen Kunstperiode uns mit einem Kunstwerk vollkommen zufrieden zu erklären,
wenn es die Natur getreu wiedergiebt. .Es ist das ein großer Irrthum. Das
wirkliche Leben in seiner vollen Ausdehnung und in seiner Vielseitigkeit reicht
nicht nur für die Kunst uicht ans, sondern es gehört gar nicht hinein. Das
klingt paradox, aber bei einigem Nachdenken wird man sich davon überzeugen.
Man hat ja auch neuerdings in der plastischen Kunst versucht, Scenen aus dem wirk¬
lichen Leben darzustellen, mit allem möglichen Aufwand technischer Mittel; es hat aber
doch keine Wirkung gethan, wahrend die alten Maler mit ihren einfachen Mitteln,
weil sie Ideale darstellten, noch immer die allgemeine Bewunderung erregen. Wir
nehmen die Genremaler davon gar nicht ans, denn die humoristische Idealität ist
auch eine Idealität. Ein Kunstwerk, welches uns die getreuesten Studien nach
der Natur giebt, beschäftigt wol unsren Verstand, vielleicht auch unsre Phan¬
tasie, aber wir eilen ungeduldig weiter und fragen bei jeder neuen Seite, wann
wird »um das eigentliche Kunstwerk anfangen? Jeder möge seine eigene Er¬
fahrung prüfen, ob er nicht selbst so empfunden hat. — Ja wir gehen noch
weiter. I» d^- läßt man sich durch das Gefühl der Uebereinstimmung
und Frende ^ einem Dichterwerk täuschen, und glaubt darin den reinsten Realis¬
mus zu haben, während doch die Realität dem Dichter nur als roher Stoff
gedient hat. So geht es z. B. den meisten Lesern mit Dickens; sie glauben in
ihm den reinsten Spiegel der Wirklichkeit zu haben, weil seine Schilderungen und
Darstellungen auf das Gemüth einwirken und einen bestimmten, in der Regel
befriedigenden Eindruck hervorbringen, und doch ist bei Dickens vou reinem
Realismus gar nicht die Rede. Abgesehen von den groben Verstößen gegen die
Wirklichkeit, die er aller Angenblicke begeht, die wir aber übersehen, weil sie die
poetische Stimmung uicht alteriren, zeigt er eigentlich überall, wo er an eine
Dmstellnng des gemeinen wirklichen Lebens geht, einen überraschenden Mangel an
Talent. So in seinen GcrichtSscencu, in seiner Beschreibung der Armenschnle u.s.w.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/53>, abgerufen am 24.07.2024.