Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Was in seinen beiden größeren Romanen: " VimU,>-I^air" und l'en-
äennis", von denen hier allein die Rede sein soll, weil in seinen kleineren
humoristischen Schriften die Hauptsache fehlt, nämlich der Humor, zunächst auffällt,
ist die Feinheit und Sauberkeit der Zeichnung. An etwas Aehnliches ist man bei
unsrer Rvmanindustrie fast gar nicht mehr gewöhnt. Thackeray ist in einer seltenen
Weise Meister über die Sprache; sie steht ihm in ihrer ganzen Ausdehnung zu
Gebot, und er hat die Fähigkeit, dnrch leise Striche, die man vielleicht gar nicht
bemerkt, die feinsten Nuancen auszudrücken. Seine Bildung geht weit über die
eines gewöhnlichen englischen Dichters heraus. Die deutsche und französische
Literatur ist nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, und in der Kunst ist er nach
allen Seiten hin zu Hanse. Diese formalen Mittel würden aber nicht ausreichen,
wenn er nicht eine so gründliche Analyse des menschlichen Herzens damit verbände,
daß wir zuweilen darüber erschrecken. Es giebt keine Falte in der Seele, die
seinem Argnsauge entgeht, und es ist kein auch noch so kleiner Zug im Gemüth,
den er seiner Aufmerksamkeit uicht für würdig hält. Das ist nicht blos Beob¬
achtung, obgleich er viel und scharf gesehen haben muß; das ist zugleich eine
große Kraft der Imagination, eine unendliche Empfänglichkeit der Saiten seiner
Phantasie, die augenblicklich einen vollen Accord angeben, wenn sie von einem
einzelnen Ton berührt werden. Seine Figuren sind nicht blos, wie bei den
gewöhnlichen Realisten, Mosaikarbeiten aus einzelnen Anschauungen, sondern sie
haben ein inneres wirkliches Leben, sie bewegen sich nach ihren eigenen Gesetze",
der Dichter kann sie eine ganze Weile ans den Augen lassen, er ist sicher, sie
immer in der vollen Kraft ihrer Natur wieder anzutreffen. Dabei beobachtet er
immer ein streng ästhetisches Maß. Obgleich er wol im Stande wäre, auch die
uugewöhiilichsteu Probleme zu lösen, und obgleich ihm seine reflectirte grüblerische
Natur gerade auf solche Aufgaben führen sollte, entfernt er sich doch nie, oder
fast nie, aus den Grenzen des allgemeinen gewöhnlichen Lebens, und ist gerade
darum sicher, überall zu überzeugen. Von den phantastischen Figuren, die
z. B. bei Dickens hänfig den größten Reiz ausmachen, ist bei ihm nie die Rede.
Der gebildete Leser hat für jeden seiner Charaktere, für jede seiner Situationen
den Schlüssel in der Hand ; er kann sie vollständig analysiren und an seinem eigenen
Gemüth die Nichtigkeit der dichterischen Schöpfung prüfen. Auch in seinen Farben
und Strichen ist nie etwas Uebertriebenes. Man merkt sogar an einzelnen Stellen sehr
wohl, daß er die Fähigkeit hätte, dnrch Anwendung stärkerer Striche und grellerer
Farben eine größere Wirkung hervorzubringen, aber er vermeidet eS geflissentlich,
weil es gegen seine ästhetischen Principien streitet. Nehmen wir noch dazu, daß
er anch das seltene Talent dehnte, uus die Aeußerlichkeiten der Dinge anschaulich
zu machen, ohne sie zu beschreiben, blos durch die Stimmung, die er der Situation
giebt, daß sich ferner in alleu seinen Ideen eine zwar sehr liberale, aber doch in
ihrem Grund gesunde Moral ausspricht, daß er warm für alles Gute und Schone


Was in seinen beiden größeren Romanen: „ VimU,>-I^air" und l'en-
äennis", von denen hier allein die Rede sein soll, weil in seinen kleineren
humoristischen Schriften die Hauptsache fehlt, nämlich der Humor, zunächst auffällt,
ist die Feinheit und Sauberkeit der Zeichnung. An etwas Aehnliches ist man bei
unsrer Rvmanindustrie fast gar nicht mehr gewöhnt. Thackeray ist in einer seltenen
Weise Meister über die Sprache; sie steht ihm in ihrer ganzen Ausdehnung zu
Gebot, und er hat die Fähigkeit, dnrch leise Striche, die man vielleicht gar nicht
bemerkt, die feinsten Nuancen auszudrücken. Seine Bildung geht weit über die
eines gewöhnlichen englischen Dichters heraus. Die deutsche und französische
Literatur ist nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, und in der Kunst ist er nach
allen Seiten hin zu Hanse. Diese formalen Mittel würden aber nicht ausreichen,
wenn er nicht eine so gründliche Analyse des menschlichen Herzens damit verbände,
daß wir zuweilen darüber erschrecken. Es giebt keine Falte in der Seele, die
seinem Argnsauge entgeht, und es ist kein auch noch so kleiner Zug im Gemüth,
den er seiner Aufmerksamkeit uicht für würdig hält. Das ist nicht blos Beob¬
achtung, obgleich er viel und scharf gesehen haben muß; das ist zugleich eine
große Kraft der Imagination, eine unendliche Empfänglichkeit der Saiten seiner
Phantasie, die augenblicklich einen vollen Accord angeben, wenn sie von einem
einzelnen Ton berührt werden. Seine Figuren sind nicht blos, wie bei den
gewöhnlichen Realisten, Mosaikarbeiten aus einzelnen Anschauungen, sondern sie
haben ein inneres wirkliches Leben, sie bewegen sich nach ihren eigenen Gesetze»,
der Dichter kann sie eine ganze Weile ans den Augen lassen, er ist sicher, sie
immer in der vollen Kraft ihrer Natur wieder anzutreffen. Dabei beobachtet er
immer ein streng ästhetisches Maß. Obgleich er wol im Stande wäre, auch die
uugewöhiilichsteu Probleme zu lösen, und obgleich ihm seine reflectirte grüblerische
Natur gerade auf solche Aufgaben führen sollte, entfernt er sich doch nie, oder
fast nie, aus den Grenzen des allgemeinen gewöhnlichen Lebens, und ist gerade
darum sicher, überall zu überzeugen. Von den phantastischen Figuren, die
z. B. bei Dickens hänfig den größten Reiz ausmachen, ist bei ihm nie die Rede.
Der gebildete Leser hat für jeden seiner Charaktere, für jede seiner Situationen
den Schlüssel in der Hand ; er kann sie vollständig analysiren und an seinem eigenen
Gemüth die Nichtigkeit der dichterischen Schöpfung prüfen. Auch in seinen Farben
und Strichen ist nie etwas Uebertriebenes. Man merkt sogar an einzelnen Stellen sehr
wohl, daß er die Fähigkeit hätte, dnrch Anwendung stärkerer Striche und grellerer
Farben eine größere Wirkung hervorzubringen, aber er vermeidet eS geflissentlich,
weil es gegen seine ästhetischen Principien streitet. Nehmen wir noch dazu, daß
er anch das seltene Talent dehnte, uus die Aeußerlichkeiten der Dinge anschaulich
zu machen, ohne sie zu beschreiben, blos durch die Stimmung, die er der Situation
giebt, daß sich ferner in alleu seinen Ideen eine zwar sehr liberale, aber doch in
ihrem Grund gesunde Moral ausspricht, daß er warm für alles Gute und Schone


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/185928"/>
          <p xml:id="ID_140" next="#ID_141"> Was in seinen beiden größeren Romanen: &#x201E; VimU,&gt;-I^air" und l'en-<lb/>
äennis", von denen hier allein die Rede sein soll, weil in seinen kleineren<lb/>
humoristischen Schriften die Hauptsache fehlt, nämlich der Humor, zunächst auffällt,<lb/>
ist die Feinheit und Sauberkeit der Zeichnung. An etwas Aehnliches ist man bei<lb/>
unsrer Rvmanindustrie fast gar nicht mehr gewöhnt. Thackeray ist in einer seltenen<lb/>
Weise Meister über die Sprache; sie steht ihm in ihrer ganzen Ausdehnung zu<lb/>
Gebot, und er hat die Fähigkeit, dnrch leise Striche, die man vielleicht gar nicht<lb/>
bemerkt, die feinsten Nuancen auszudrücken. Seine Bildung geht weit über die<lb/>
eines gewöhnlichen englischen Dichters heraus. Die deutsche und französische<lb/>
Literatur ist nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, und in der Kunst ist er nach<lb/>
allen Seiten hin zu Hanse. Diese formalen Mittel würden aber nicht ausreichen,<lb/>
wenn er nicht eine so gründliche Analyse des menschlichen Herzens damit verbände,<lb/>
daß wir zuweilen darüber erschrecken. Es giebt keine Falte in der Seele, die<lb/>
seinem Argnsauge entgeht, und es ist kein auch noch so kleiner Zug im Gemüth,<lb/>
den er seiner Aufmerksamkeit uicht für würdig hält. Das ist nicht blos Beob¬<lb/>
achtung, obgleich er viel und scharf gesehen haben muß; das ist zugleich eine<lb/>
große Kraft der Imagination, eine unendliche Empfänglichkeit der Saiten seiner<lb/>
Phantasie, die augenblicklich einen vollen Accord angeben, wenn sie von einem<lb/>
einzelnen Ton berührt werden. Seine Figuren sind nicht blos, wie bei den<lb/>
gewöhnlichen Realisten, Mosaikarbeiten aus einzelnen Anschauungen, sondern sie<lb/>
haben ein inneres wirkliches Leben, sie bewegen sich nach ihren eigenen Gesetze»,<lb/>
der Dichter kann sie eine ganze Weile ans den Augen lassen, er ist sicher, sie<lb/>
immer in der vollen Kraft ihrer Natur wieder anzutreffen. Dabei beobachtet er<lb/>
immer ein streng ästhetisches Maß. Obgleich er wol im Stande wäre, auch die<lb/>
uugewöhiilichsteu Probleme zu lösen, und obgleich ihm seine reflectirte grüblerische<lb/>
Natur gerade auf solche Aufgaben führen sollte, entfernt er sich doch nie, oder<lb/>
fast nie, aus den Grenzen des allgemeinen gewöhnlichen Lebens, und ist gerade<lb/>
darum sicher, überall zu überzeugen. Von den phantastischen Figuren, die<lb/>
z. B. bei Dickens hänfig den größten Reiz ausmachen, ist bei ihm nie die Rede.<lb/>
Der gebildete Leser hat für jeden seiner Charaktere, für jede seiner Situationen<lb/>
den Schlüssel in der Hand ; er kann sie vollständig analysiren und an seinem eigenen<lb/>
Gemüth die Nichtigkeit der dichterischen Schöpfung prüfen. Auch in seinen Farben<lb/>
und Strichen ist nie etwas Uebertriebenes. Man merkt sogar an einzelnen Stellen sehr<lb/>
wohl, daß er die Fähigkeit hätte, dnrch Anwendung stärkerer Striche und grellerer<lb/>
Farben eine größere Wirkung hervorzubringen, aber er vermeidet eS geflissentlich,<lb/>
weil es gegen seine ästhetischen Principien streitet. Nehmen wir noch dazu, daß<lb/>
er anch das seltene Talent dehnte, uus die Aeußerlichkeiten der Dinge anschaulich<lb/>
zu machen, ohne sie zu beschreiben, blos durch die Stimmung, die er der Situation<lb/>
giebt, daß sich ferner in alleu seinen Ideen eine zwar sehr liberale, aber doch in<lb/>
ihrem Grund gesunde Moral ausspricht, daß er warm für alles Gute und Schone</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] Was in seinen beiden größeren Romanen: „ VimU,>-I^air" und l'en- äennis", von denen hier allein die Rede sein soll, weil in seinen kleineren humoristischen Schriften die Hauptsache fehlt, nämlich der Humor, zunächst auffällt, ist die Feinheit und Sauberkeit der Zeichnung. An etwas Aehnliches ist man bei unsrer Rvmanindustrie fast gar nicht mehr gewöhnt. Thackeray ist in einer seltenen Weise Meister über die Sprache; sie steht ihm in ihrer ganzen Ausdehnung zu Gebot, und er hat die Fähigkeit, dnrch leise Striche, die man vielleicht gar nicht bemerkt, die feinsten Nuancen auszudrücken. Seine Bildung geht weit über die eines gewöhnlichen englischen Dichters heraus. Die deutsche und französische Literatur ist nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben, und in der Kunst ist er nach allen Seiten hin zu Hanse. Diese formalen Mittel würden aber nicht ausreichen, wenn er nicht eine so gründliche Analyse des menschlichen Herzens damit verbände, daß wir zuweilen darüber erschrecken. Es giebt keine Falte in der Seele, die seinem Argnsauge entgeht, und es ist kein auch noch so kleiner Zug im Gemüth, den er seiner Aufmerksamkeit uicht für würdig hält. Das ist nicht blos Beob¬ achtung, obgleich er viel und scharf gesehen haben muß; das ist zugleich eine große Kraft der Imagination, eine unendliche Empfänglichkeit der Saiten seiner Phantasie, die augenblicklich einen vollen Accord angeben, wenn sie von einem einzelnen Ton berührt werden. Seine Figuren sind nicht blos, wie bei den gewöhnlichen Realisten, Mosaikarbeiten aus einzelnen Anschauungen, sondern sie haben ein inneres wirkliches Leben, sie bewegen sich nach ihren eigenen Gesetze», der Dichter kann sie eine ganze Weile ans den Augen lassen, er ist sicher, sie immer in der vollen Kraft ihrer Natur wieder anzutreffen. Dabei beobachtet er immer ein streng ästhetisches Maß. Obgleich er wol im Stande wäre, auch die uugewöhiilichsteu Probleme zu lösen, und obgleich ihm seine reflectirte grüblerische Natur gerade auf solche Aufgaben führen sollte, entfernt er sich doch nie, oder fast nie, aus den Grenzen des allgemeinen gewöhnlichen Lebens, und ist gerade darum sicher, überall zu überzeugen. Von den phantastischen Figuren, die z. B. bei Dickens hänfig den größten Reiz ausmachen, ist bei ihm nie die Rede. Der gebildete Leser hat für jeden seiner Charaktere, für jede seiner Situationen den Schlüssel in der Hand ; er kann sie vollständig analysiren und an seinem eigenen Gemüth die Nichtigkeit der dichterischen Schöpfung prüfen. Auch in seinen Farben und Strichen ist nie etwas Uebertriebenes. Man merkt sogar an einzelnen Stellen sehr wohl, daß er die Fähigkeit hätte, dnrch Anwendung stärkerer Striche und grellerer Farben eine größere Wirkung hervorzubringen, aber er vermeidet eS geflissentlich, weil es gegen seine ästhetischen Principien streitet. Nehmen wir noch dazu, daß er anch das seltene Talent dehnte, uus die Aeußerlichkeiten der Dinge anschaulich zu machen, ohne sie zu beschreiben, blos durch die Stimmung, die er der Situation giebt, daß sich ferner in alleu seinen Ideen eine zwar sehr liberale, aber doch in ihrem Grund gesunde Moral ausspricht, daß er warm für alles Gute und Schone

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/52
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/52>, abgerufen am 24.07.2024.