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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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regierten dann die Welt viele Myriaden Jahre lang, bis der letzte derselben die
Erde, oder vielmehr Japan, und 8 Millionen Götter erschuf, die Regierung der
Welt aber seiner Lieblingstochter, der Sonnengöttin, übergab, die nnr 2!)0,000 Jahre
regierte, worauf ihr 4 Halbgötter mit einer Regierungszeit von 2,09-1 M2 Jahre
folgten. Der letzte derselben nahm eine sterbliche Gattin, und erzeugte mit ihr
einen Sohn, den Urahn der Mikados.

Alle diese Götter sind aber zu hoch, um sich um die irdischen Angelegen¬
heiten bekümmern zu tonnen, und der practische Japanese wendet daher sein
Gebet nicht direct an sie, nicht einmal an die Schutzgöttin des Landes, die Son-
nengöttin, sondern an die Kamis, Naturgeister oder Heroen und Heilige, deren
Anzahl selbst einen Katholiken in Erstaunen setzen würden, denn die japanische
Mythologie kennt von ersteren i92, von letzteren nicht weniger als 26-L0. Ihnen
wird während 11 Monaten des Jahres Verehrung gezollt, während des zwölften
aber kaun man nicht zu ihnen beten, denn dann sind sämmtliche Kamis auf Be¬
such am Hofe des Mikado. Sie werden in Miaö oder Tempeln verehrt, in denen
auch ihr Bild aufbewahrt wird, ohne jedoch Gegenstand der Verehrung zu sein.
Der Siutv verrichtet sein Gebet kniend vor einem im Tempel angebrachten Spie¬
gel, und so deutlich er seine Züge in demselben erblickt, so klar sind dem Gotte,
zu dem er betet, die Flecken und die Wünsche seiner Seele. Reinheit der Seele,
des Herzens und des Körpers, Beobachtung der Festtage, Pilgerfahrten und Ver¬
ehrung der Kamis sind die hauptsächlichsten religiösen Pflichten des Sintv. Sein
Lohn jenseits ist ein glückseliges Leben im Paradies unter dem 33. Himmel,
der Wohnung seiner Götter; die Bösen irren nach dem Tode umher, bis sie ihre
Verbrechen gesühnt haben.

Die Tempelwächter, die Kamiuusi, sind die einzige eigentliche Priesterschaft
der Sirtus. Sie dürfen sich verheirathen, und ihre Frauen sind Priesterinnen,
und verrichten verschiedene gottesdienstliche Gebräuche. Außer 'durch die Tracht
des Haares, welches sie nicht scheeren, und durch einen besonders gestalteten Hut
unterscheiden sich die Kamiuusi in nichts von den Laien; nur bei ihren gottes-
dienstlichen Verrichtungen legen sie ein besonderes Kleid an. Ihre Kaste gehört
zu den vornehmern und ist berechtigt, zwei Schwerter zu tragen.

Außerdem giebt es zwei Bliudeuordeu, die ebenfalls zu den Geistlichen zählen,
obgleich die Mitglieder des einen derselben ihren Lebensunterhalt hauptsächlich
durch Musik verdienen, und selbst im Theater spielen. Die Entstehungsgeschichte
dieser beiden Orden ist so romantisch, und die deö einen so charakteristisch für die
Japanesen, daß wir sie unsern Lesern nicht vorenthalten dürfen.

Der Ursprung des ersten dieser Orden, Bussatz Salv, hat mit der Religion
nichts zu thun, sondern knüpft sich an eine Liebesgeschichte. Vor vielen Jahr¬
hunderten stiftete ihn Senmimar, Sohn des Mikado Jengins, der schönste aller
Menschen, weil er sich um den Verlust einer ihm an Schönheit gleichkommenden


regierten dann die Welt viele Myriaden Jahre lang, bis der letzte derselben die
Erde, oder vielmehr Japan, und 8 Millionen Götter erschuf, die Regierung der
Welt aber seiner Lieblingstochter, der Sonnengöttin, übergab, die nnr 2!)0,000 Jahre
regierte, worauf ihr 4 Halbgötter mit einer Regierungszeit von 2,09-1 M2 Jahre
folgten. Der letzte derselben nahm eine sterbliche Gattin, und erzeugte mit ihr
einen Sohn, den Urahn der Mikados.

Alle diese Götter sind aber zu hoch, um sich um die irdischen Angelegen¬
heiten bekümmern zu tonnen, und der practische Japanese wendet daher sein
Gebet nicht direct an sie, nicht einmal an die Schutzgöttin des Landes, die Son-
nengöttin, sondern an die Kamis, Naturgeister oder Heroen und Heilige, deren
Anzahl selbst einen Katholiken in Erstaunen setzen würden, denn die japanische
Mythologie kennt von ersteren i92, von letzteren nicht weniger als 26-L0. Ihnen
wird während 11 Monaten des Jahres Verehrung gezollt, während des zwölften
aber kaun man nicht zu ihnen beten, denn dann sind sämmtliche Kamis auf Be¬
such am Hofe des Mikado. Sie werden in Miaö oder Tempeln verehrt, in denen
auch ihr Bild aufbewahrt wird, ohne jedoch Gegenstand der Verehrung zu sein.
Der Siutv verrichtet sein Gebet kniend vor einem im Tempel angebrachten Spie¬
gel, und so deutlich er seine Züge in demselben erblickt, so klar sind dem Gotte,
zu dem er betet, die Flecken und die Wünsche seiner Seele. Reinheit der Seele,
des Herzens und des Körpers, Beobachtung der Festtage, Pilgerfahrten und Ver¬
ehrung der Kamis sind die hauptsächlichsten religiösen Pflichten des Sintv. Sein
Lohn jenseits ist ein glückseliges Leben im Paradies unter dem 33. Himmel,
der Wohnung seiner Götter; die Bösen irren nach dem Tode umher, bis sie ihre
Verbrechen gesühnt haben.

Die Tempelwächter, die Kamiuusi, sind die einzige eigentliche Priesterschaft
der Sirtus. Sie dürfen sich verheirathen, und ihre Frauen sind Priesterinnen,
und verrichten verschiedene gottesdienstliche Gebräuche. Außer 'durch die Tracht
des Haares, welches sie nicht scheeren, und durch einen besonders gestalteten Hut
unterscheiden sich die Kamiuusi in nichts von den Laien; nur bei ihren gottes-
dienstlichen Verrichtungen legen sie ein besonderes Kleid an. Ihre Kaste gehört
zu den vornehmern und ist berechtigt, zwei Schwerter zu tragen.

Außerdem giebt es zwei Bliudeuordeu, die ebenfalls zu den Geistlichen zählen,
obgleich die Mitglieder des einen derselben ihren Lebensunterhalt hauptsächlich
durch Musik verdienen, und selbst im Theater spielen. Die Entstehungsgeschichte
dieser beiden Orden ist so romantisch, und die deö einen so charakteristisch für die
Japanesen, daß wir sie unsern Lesern nicht vorenthalten dürfen.

Der Ursprung des ersten dieser Orden, Bussatz Salv, hat mit der Religion
nichts zu thun, sondern knüpft sich an eine Liebesgeschichte. Vor vielen Jahr¬
hunderten stiftete ihn Senmimar, Sohn des Mikado Jengins, der schönste aller
Menschen, weil er sich um den Verlust einer ihm an Schönheit gleichkommenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/503>, abgerufen am 04.07.2024.