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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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Wochenb erlebt.

Im kommen¬
den Monat Mai werden vierhundert Jahre vergangen sein, seitdem die Türken
den Halbmond ans den Zinnen der Stadt Constantin'ö aufgepflanzt. Eine alte
Sage, die bald nach der Eroberung in der griechischen Bevölkerung umging und
bis zur heutigen Stunde sich erhalten hat, verkündet, daß am Ende dieses
Zeitraums, den der Herr als eine PrüfnugS - "ud Bußzeit über sein Volk ver¬
hangen, das Krenz anf's Neue über der Aga Sophia erhöhet werden würde.
Beinahe möchte mau nach eiuer Ueberschau der politischen Situation des Augen¬
blicks ans die Vermuthung kommen, daß die altersgraue Prophezeiung ihrer
Erfüllung entgegen gehe!

Seit den zwanziger Jahren dieses SäcnlnmS hat das ottvmanische Reich sich
in keiner so drohenden und auswegslosen Krisis befunden, wie die gegenwärtige.
Die Verwickelung ist eine um so ernstere, als sie eine zweifache, mit Oestreich
und Nußland zugleich ist. Einsichtige Politiker sahen vor langer Zeit schon das
drohende Ungewitter Heraufziehen. Aber die Umstände, wie sie nun einmal sind,
haben es gewollt, daß der fragliche Augenblick weder die Pforte selber einiger¬
maßen in Fassung, noch die beiden großen Seemächte in einer Haltung findet,
welche ihnen gestattete, recht zeitig und mit ihrer ganzen politischen Schwerkraft
auf den Gang der Ereignisse zu influiren.

Wie alle Verhältnisse, die erst in der Entwickelung begriffen sind, liegen auch
die hier in Rede stehenden noch äußerst verworren vor den Blicken des Beob¬
achters. Hundert Widersprüche, wohin man hört und sich wendet. Unter solchen
Umständen hat es einige Schwierigkeiten, den leitenden rothen Faden aufzu-
finden. Indem ich den Versuch dazu mache, verwahre ich mich ausdrücklich
gegen einen etwaigen nachträglichen Vorwurf, in diesem oder jenem Pnnkte gefehlt
zu haben.

Man muß bei Berücksichtigung der Lage zunächst, und um von allem Anfang
an sich vor mißleitenden Irrthümern zu hüten, das Verhältniß Rußlands und
Oestreichs unter einander scharf auffassen. Das gemeinsame politische Operiren
dieser beiden Mächte ist durchans nicht in der Weise zu deuten, als ob eine voll¬
kommene Uebereinstimmung zwischen ihnen walte. Die dabei in's Spiel kommen¬
den Interessen Oestreichs sind so zu sagen localer, und dagegen diejenigen
Rußlands mehr nationaler Natur. Für letztere Macht ist die Angelegenheit
Montenegros Hauptsache. Für das Wiener Cabinet dagegen ist sie nur ein
Anhängsel zur Haupistrcitfrage, die ihren Mpnmg aus dem Jahre 4849 her
datirt.

Sie wissen, daß seit Ausgang jenes Jahres die diplomatischen Verhältnisse


Wochenb erlebt.

Im kommen¬
den Monat Mai werden vierhundert Jahre vergangen sein, seitdem die Türken
den Halbmond ans den Zinnen der Stadt Constantin'ö aufgepflanzt. Eine alte
Sage, die bald nach der Eroberung in der griechischen Bevölkerung umging und
bis zur heutigen Stunde sich erhalten hat, verkündet, daß am Ende dieses
Zeitraums, den der Herr als eine PrüfnugS - »ud Bußzeit über sein Volk ver¬
hangen, das Krenz anf's Neue über der Aga Sophia erhöhet werden würde.
Beinahe möchte mau nach eiuer Ueberschau der politischen Situation des Augen¬
blicks ans die Vermuthung kommen, daß die altersgraue Prophezeiung ihrer
Erfüllung entgegen gehe!

Seit den zwanziger Jahren dieses SäcnlnmS hat das ottvmanische Reich sich
in keiner so drohenden und auswegslosen Krisis befunden, wie die gegenwärtige.
Die Verwickelung ist eine um so ernstere, als sie eine zweifache, mit Oestreich
und Nußland zugleich ist. Einsichtige Politiker sahen vor langer Zeit schon das
drohende Ungewitter Heraufziehen. Aber die Umstände, wie sie nun einmal sind,
haben es gewollt, daß der fragliche Augenblick weder die Pforte selber einiger¬
maßen in Fassung, noch die beiden großen Seemächte in einer Haltung findet,
welche ihnen gestattete, recht zeitig und mit ihrer ganzen politischen Schwerkraft
auf den Gang der Ereignisse zu influiren.

Wie alle Verhältnisse, die erst in der Entwickelung begriffen sind, liegen auch
die hier in Rede stehenden noch äußerst verworren vor den Blicken des Beob¬
achters. Hundert Widersprüche, wohin man hört und sich wendet. Unter solchen
Umständen hat es einige Schwierigkeiten, den leitenden rothen Faden aufzu-
finden. Indem ich den Versuch dazu mache, verwahre ich mich ausdrücklich
gegen einen etwaigen nachträglichen Vorwurf, in diesem oder jenem Pnnkte gefehlt
zu haben.

Man muß bei Berücksichtigung der Lage zunächst, und um von allem Anfang
an sich vor mißleitenden Irrthümern zu hüten, das Verhältniß Rußlands und
Oestreichs unter einander scharf auffassen. Das gemeinsame politische Operiren
dieser beiden Mächte ist durchans nicht in der Weise zu deuten, als ob eine voll¬
kommene Uebereinstimmung zwischen ihnen walte. Die dabei in's Spiel kommen¬
den Interessen Oestreichs sind so zu sagen localer, und dagegen diejenigen
Rußlands mehr nationaler Natur. Für letztere Macht ist die Angelegenheit
Montenegros Hauptsache. Für das Wiener Cabinet dagegen ist sie nur ein
Anhängsel zur Haupistrcitfrage, die ihren Mpnmg aus dem Jahre 4849 her
datirt.

Sie wissen, daß seit Ausgang jenes Jahres die diplomatischen Verhältnisse


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[0431] Wochenb erlebt. Im kommen¬ den Monat Mai werden vierhundert Jahre vergangen sein, seitdem die Türken den Halbmond ans den Zinnen der Stadt Constantin'ö aufgepflanzt. Eine alte Sage, die bald nach der Eroberung in der griechischen Bevölkerung umging und bis zur heutigen Stunde sich erhalten hat, verkündet, daß am Ende dieses Zeitraums, den der Herr als eine PrüfnugS - »ud Bußzeit über sein Volk ver¬ hangen, das Krenz anf's Neue über der Aga Sophia erhöhet werden würde. Beinahe möchte mau nach eiuer Ueberschau der politischen Situation des Augen¬ blicks ans die Vermuthung kommen, daß die altersgraue Prophezeiung ihrer Erfüllung entgegen gehe! Seit den zwanziger Jahren dieses SäcnlnmS hat das ottvmanische Reich sich in keiner so drohenden und auswegslosen Krisis befunden, wie die gegenwärtige. Die Verwickelung ist eine um so ernstere, als sie eine zweifache, mit Oestreich und Nußland zugleich ist. Einsichtige Politiker sahen vor langer Zeit schon das drohende Ungewitter Heraufziehen. Aber die Umstände, wie sie nun einmal sind, haben es gewollt, daß der fragliche Augenblick weder die Pforte selber einiger¬ maßen in Fassung, noch die beiden großen Seemächte in einer Haltung findet, welche ihnen gestattete, recht zeitig und mit ihrer ganzen politischen Schwerkraft auf den Gang der Ereignisse zu influiren. Wie alle Verhältnisse, die erst in der Entwickelung begriffen sind, liegen auch die hier in Rede stehenden noch äußerst verworren vor den Blicken des Beob¬ achters. Hundert Widersprüche, wohin man hört und sich wendet. Unter solchen Umständen hat es einige Schwierigkeiten, den leitenden rothen Faden aufzu- finden. Indem ich den Versuch dazu mache, verwahre ich mich ausdrücklich gegen einen etwaigen nachträglichen Vorwurf, in diesem oder jenem Pnnkte gefehlt zu haben. Man muß bei Berücksichtigung der Lage zunächst, und um von allem Anfang an sich vor mißleitenden Irrthümern zu hüten, das Verhältniß Rußlands und Oestreichs unter einander scharf auffassen. Das gemeinsame politische Operiren dieser beiden Mächte ist durchans nicht in der Weise zu deuten, als ob eine voll¬ kommene Uebereinstimmung zwischen ihnen walte. Die dabei in's Spiel kommen¬ den Interessen Oestreichs sind so zu sagen localer, und dagegen diejenigen Rußlands mehr nationaler Natur. Für letztere Macht ist die Angelegenheit Montenegros Hauptsache. Für das Wiener Cabinet dagegen ist sie nur ein Anhängsel zur Haupistrcitfrage, die ihren Mpnmg aus dem Jahre 4849 her datirt. Sie wissen, daß seit Ausgang jenes Jahres die diplomatischen Verhältnisse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/431>, abgerufen am 27.12.2024.