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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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abschwächt, ihm Leben benimmt anstatt giebt, so daß er in diesem Stück bereits
hinter gar vielen Künstlern zurücksteht, die ihm sonst nicht die Schuhriemen auf¬
zulösen würdig wären, von den besseren Cinqneccntisten oder manchen modernen
Franzosen gar nicht zu sprechen. Besonders störend und die Schönheit vernichtend
wirkt hier die zu starke Accentuirung der kleinen Formen, der Mitteltönc, die oft
Körper und Gesichter krampfhaft verzogen oder alt erscheinen läßt. -- Immerhin
ist aber auch noch hier der große Künstler, der überall selbstständig arbeitet, nie¬
mals von den Zufälligkeiten des Modells abhängig ist, bei dem uicht nur die
ganze Komposition ein Gedicht, sondern noch jedes Detail eine Art von melo.
bischen Vers desselben ist, nirgend zu verkennen. -- Leider sind viele seiner Com-
positionen von seinen Schülern auf eine solch' schülerhaste Weise ausgeführt
worden, daß dem Laien, der ja bei allen ästhetischen Gegenständen die Totalität
der Erscheinung bedarf, um zum Genuß kommen zu können, derselbe fast unmöglich
gemacht wird. Die Arbeiten der Raphael'schen Schule in den Stanzen und der
Loggia des Vaticans, die doch auch oft liederlich genug sind, können bisweilen
noch als leuchtende Muster daneben gelten. -- Vielleicht noch weniger Gutes
kann man der Farbe seiner Bilder nachsagen; bei dem, was er selber gemalt hat,
zeigt sie zwar einen herben und unharmonischen, aber doch immer noch großartigen
Charakter; auch die abgesagtesten Feinde des Meisters werden doch immer noch
gestehen müssen, daß ein Pfuscher niemals so zu malen im Stande wäre, so sehr
auch oft der physiognomische Eindruck der Farbe dem der Composition wider¬
spricht, ja ihn geradezu aufhebt. Bei den von den Schülern gemalten Bildern
aber, und dies ist die große Mehrzahl, offenbart sich oft das Schlimmste von
Allem, nämlich gar kein System; so sind z. B. der Brand von Troja, der Kampf
um den Leichnam des Patroklus und der größere Theil der Deckenbilder in der
Glyptothek in wahrhaft haarsträubender Weise gemalt, die leicht erklärlich macht,
wie unser Meister so erbitterte Gegner selbst unter Künstlern in München finden
kann, denen leicht nachzuweisen wäre, daß sie das Verdienstlichste an ihren eigenen
Werken ihm und seiner Schule allein verdanken. --

Ein tieferer Grund des Mangels an Verständnis; oder Antheil, den man
bei einem großen Theile des Publicums für den Meister findet, ist der Mangel
an Individualisirung, den man bisweilen ihm vorwerfen muß. Nicht als ob er
nicht eine große Mannichfaltigkeit an vortrefflichen und ausdrucksvollen Charakteren
zeigte, er ist daran so reich als irgend ein anderer, eben so zeigt er die genauste
Kenntniß der Gesetze, der Gestalt und der Bedeutung aller Naturformen für die
künstlerische Sprache, er weiß auf's Beste, wie jede Regung des menschlichen
Herzens sich in den Mienen wiederspiegelt, wie jede Anlage und jeder Charakter
sich in Körper und Kopf auspräge", aber er erhöht jeden zu seinem eigenen
Ideal, und eben diese Herrschaft über sich und den Stoss, die ihn wie Michel
Angelo niemals etwas Anderes sagen läßt als eben nur, was er will, diese an-


abschwächt, ihm Leben benimmt anstatt giebt, so daß er in diesem Stück bereits
hinter gar vielen Künstlern zurücksteht, die ihm sonst nicht die Schuhriemen auf¬
zulösen würdig wären, von den besseren Cinqneccntisten oder manchen modernen
Franzosen gar nicht zu sprechen. Besonders störend und die Schönheit vernichtend
wirkt hier die zu starke Accentuirung der kleinen Formen, der Mitteltönc, die oft
Körper und Gesichter krampfhaft verzogen oder alt erscheinen läßt. — Immerhin
ist aber auch noch hier der große Künstler, der überall selbstständig arbeitet, nie¬
mals von den Zufälligkeiten des Modells abhängig ist, bei dem uicht nur die
ganze Komposition ein Gedicht, sondern noch jedes Detail eine Art von melo.
bischen Vers desselben ist, nirgend zu verkennen. — Leider sind viele seiner Com-
positionen von seinen Schülern auf eine solch' schülerhaste Weise ausgeführt
worden, daß dem Laien, der ja bei allen ästhetischen Gegenständen die Totalität
der Erscheinung bedarf, um zum Genuß kommen zu können, derselbe fast unmöglich
gemacht wird. Die Arbeiten der Raphael'schen Schule in den Stanzen und der
Loggia des Vaticans, die doch auch oft liederlich genug sind, können bisweilen
noch als leuchtende Muster daneben gelten. — Vielleicht noch weniger Gutes
kann man der Farbe seiner Bilder nachsagen; bei dem, was er selber gemalt hat,
zeigt sie zwar einen herben und unharmonischen, aber doch immer noch großartigen
Charakter; auch die abgesagtesten Feinde des Meisters werden doch immer noch
gestehen müssen, daß ein Pfuscher niemals so zu malen im Stande wäre, so sehr
auch oft der physiognomische Eindruck der Farbe dem der Composition wider¬
spricht, ja ihn geradezu aufhebt. Bei den von den Schülern gemalten Bildern
aber, und dies ist die große Mehrzahl, offenbart sich oft das Schlimmste von
Allem, nämlich gar kein System; so sind z. B. der Brand von Troja, der Kampf
um den Leichnam des Patroklus und der größere Theil der Deckenbilder in der
Glyptothek in wahrhaft haarsträubender Weise gemalt, die leicht erklärlich macht,
wie unser Meister so erbitterte Gegner selbst unter Künstlern in München finden
kann, denen leicht nachzuweisen wäre, daß sie das Verdienstlichste an ihren eigenen
Werken ihm und seiner Schule allein verdanken. —

Ein tieferer Grund des Mangels an Verständnis; oder Antheil, den man
bei einem großen Theile des Publicums für den Meister findet, ist der Mangel
an Individualisirung, den man bisweilen ihm vorwerfen muß. Nicht als ob er
nicht eine große Mannichfaltigkeit an vortrefflichen und ausdrucksvollen Charakteren
zeigte, er ist daran so reich als irgend ein anderer, eben so zeigt er die genauste
Kenntniß der Gesetze, der Gestalt und der Bedeutung aller Naturformen für die
künstlerische Sprache, er weiß auf's Beste, wie jede Regung des menschlichen
Herzens sich in den Mienen wiederspiegelt, wie jede Anlage und jeder Charakter
sich in Körper und Kopf auspräge», aber er erhöht jeden zu seinem eigenen
Ideal, und eben diese Herrschaft über sich und den Stoss, die ihn wie Michel
Angelo niemals etwas Anderes sagen läßt als eben nur, was er will, diese an-


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[0381] abschwächt, ihm Leben benimmt anstatt giebt, so daß er in diesem Stück bereits hinter gar vielen Künstlern zurücksteht, die ihm sonst nicht die Schuhriemen auf¬ zulösen würdig wären, von den besseren Cinqneccntisten oder manchen modernen Franzosen gar nicht zu sprechen. Besonders störend und die Schönheit vernichtend wirkt hier die zu starke Accentuirung der kleinen Formen, der Mitteltönc, die oft Körper und Gesichter krampfhaft verzogen oder alt erscheinen läßt. — Immerhin ist aber auch noch hier der große Künstler, der überall selbstständig arbeitet, nie¬ mals von den Zufälligkeiten des Modells abhängig ist, bei dem uicht nur die ganze Komposition ein Gedicht, sondern noch jedes Detail eine Art von melo. bischen Vers desselben ist, nirgend zu verkennen. — Leider sind viele seiner Com- positionen von seinen Schülern auf eine solch' schülerhaste Weise ausgeführt worden, daß dem Laien, der ja bei allen ästhetischen Gegenständen die Totalität der Erscheinung bedarf, um zum Genuß kommen zu können, derselbe fast unmöglich gemacht wird. Die Arbeiten der Raphael'schen Schule in den Stanzen und der Loggia des Vaticans, die doch auch oft liederlich genug sind, können bisweilen noch als leuchtende Muster daneben gelten. — Vielleicht noch weniger Gutes kann man der Farbe seiner Bilder nachsagen; bei dem, was er selber gemalt hat, zeigt sie zwar einen herben und unharmonischen, aber doch immer noch großartigen Charakter; auch die abgesagtesten Feinde des Meisters werden doch immer noch gestehen müssen, daß ein Pfuscher niemals so zu malen im Stande wäre, so sehr auch oft der physiognomische Eindruck der Farbe dem der Composition wider¬ spricht, ja ihn geradezu aufhebt. Bei den von den Schülern gemalten Bildern aber, und dies ist die große Mehrzahl, offenbart sich oft das Schlimmste von Allem, nämlich gar kein System; so sind z. B. der Brand von Troja, der Kampf um den Leichnam des Patroklus und der größere Theil der Deckenbilder in der Glyptothek in wahrhaft haarsträubender Weise gemalt, die leicht erklärlich macht, wie unser Meister so erbitterte Gegner selbst unter Künstlern in München finden kann, denen leicht nachzuweisen wäre, daß sie das Verdienstlichste an ihren eigenen Werken ihm und seiner Schule allein verdanken. — Ein tieferer Grund des Mangels an Verständnis; oder Antheil, den man bei einem großen Theile des Publicums für den Meister findet, ist der Mangel an Individualisirung, den man bisweilen ihm vorwerfen muß. Nicht als ob er nicht eine große Mannichfaltigkeit an vortrefflichen und ausdrucksvollen Charakteren zeigte, er ist daran so reich als irgend ein anderer, eben so zeigt er die genauste Kenntniß der Gesetze, der Gestalt und der Bedeutung aller Naturformen für die künstlerische Sprache, er weiß auf's Beste, wie jede Regung des menschlichen Herzens sich in den Mienen wiederspiegelt, wie jede Anlage und jeder Charakter sich in Körper und Kopf auspräge», aber er erhöht jeden zu seinem eigenen Ideal, und eben diese Herrschaft über sich und den Stoss, die ihn wie Michel Angelo niemals etwas Anderes sagen läßt als eben nur, was er will, diese an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/381>, abgerufen am 24.07.2024.