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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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uns als widrig. Daß durch ihr heldenmüthiges Martyrium der Syrcrkönig zum
Abzug und Friede" bewogen werden kauu, glauben wir nicht, denn wir haben
zu wenig menschliches Leben in ihm gesehen. Daß diese grausame That die
Katastrophe einer tragischen Handlung darstelle, empfinden wir auch nicht, denn
die Liebe der Mutter zu Eleazar, welche im Anfänge des Stückes das Motiv für
die Verwickelung der Handlung zu werden scheint, ist durchaus nicht Schuld an
dem Tode der jüngsten Kinder, und daß die unschuldigen Kinder büßen müssen, was
Mutterstolz und Familienadel anderweitig verschuldet, das ist nus uoch störender
als das Abschlachten des jungen Macduff bei Shakespeare. Aber abgesehen von
diesen Bedeuten, ist die Ausführung dieses Theils zu loben, sogar zu bewundern.
Mit einem merkwürdigen technischen Geschick hat der Dichter die ganze große Scene
des Martyriums so arrangirt, daß das Gräßliche und Barbarische des Actes sich
so viel als möglich der Phantasie entzieht und die Leidenschaft wie der edle Sinn
der Mutter imponirend in den Vordergrund treten. Diese Scene halten wir nicht
nnr für die Hauptscene des Stückes, sondern in Darstellung des Pathos über¬
haupt sür das Beste, was in den letzten Jahren in Deutschland im tragischen
Styl geschrieben ward. Hier, wo der Dichter Raum für detaillirte Darstellung
eines großen menschlichen Gefühls hatte, zeigt sein merkwürdiges Talent wieder,
was er vermag und was er uus werden könnte, wenn -- wenn er erwerben kann,
was ihm noch fehlt.

In diesen ausgeführten Scenen ist auch die Sprache edel und in der Regel
wohllautend. An vielen andern Stellen sieht man, daß der Vers dem Dichter,
der eine so charakteristische, markige Prosa schreibt, noch Schwierigkeiten bereitet.
In dem Bestreben, klar zu sein, ist er oft undeutlich und rauh.

Wieder erkennen wir in diesem Stück ein dramatisches Talent, welches die vir¬
tuose Kraft hat, große tragische Gefühle in imponirender Weise durch hohes
Pathos und dramatisches Detail herauszubilden, aber wieder empfinden wir anch,
daß der Dichter die Eigenschaft noch nicht besitzt, eine dramatische Handlung in,
ihrem innern Verlaufe durch die Charaktere mit Freiheit und übersichtlicher Klar¬
heit zusammenzufassen, und es scheint uns, als ob er lebhafter und genauer die
pathetischen und leidenschaftlichem Ausbrüche einzelner Persönlichkeiten empfände,
als die Wirkung, welche die Charaktere in den Situationen ans einander ausüben,
jene Gebundenheit und jenes Zusammcnhandcln aller Einzelnen in der Situativ",
welches i" seiner Combination den Gesammteindruck jeder Scene und jedes Theiles
der Handlung stark "ut kräftig heraustreiben wird. Es fehlt ihm noch die Fertigkeit, die
bedeutenden Menschen, welche er zusammengebeten hat, gesellschaftlich zusammenzuhal¬
ten, planmäßig nach einem bestimmten Ziel zu dirigire" und in jedem Augenblicke des
Zusammenspiels mit Sicherheit zu empfinden, was in der Seele eines jeden
Einzelnen von ihnen vorgehen muß.


uns als widrig. Daß durch ihr heldenmüthiges Martyrium der Syrcrkönig zum
Abzug und Friede» bewogen werden kauu, glauben wir nicht, denn wir haben
zu wenig menschliches Leben in ihm gesehen. Daß diese grausame That die
Katastrophe einer tragischen Handlung darstelle, empfinden wir auch nicht, denn
die Liebe der Mutter zu Eleazar, welche im Anfänge des Stückes das Motiv für
die Verwickelung der Handlung zu werden scheint, ist durchaus nicht Schuld an
dem Tode der jüngsten Kinder, und daß die unschuldigen Kinder büßen müssen, was
Mutterstolz und Familienadel anderweitig verschuldet, das ist nus uoch störender
als das Abschlachten des jungen Macduff bei Shakespeare. Aber abgesehen von
diesen Bedeuten, ist die Ausführung dieses Theils zu loben, sogar zu bewundern.
Mit einem merkwürdigen technischen Geschick hat der Dichter die ganze große Scene
des Martyriums so arrangirt, daß das Gräßliche und Barbarische des Actes sich
so viel als möglich der Phantasie entzieht und die Leidenschaft wie der edle Sinn
der Mutter imponirend in den Vordergrund treten. Diese Scene halten wir nicht
nnr für die Hauptscene des Stückes, sondern in Darstellung des Pathos über¬
haupt sür das Beste, was in den letzten Jahren in Deutschland im tragischen
Styl geschrieben ward. Hier, wo der Dichter Raum für detaillirte Darstellung
eines großen menschlichen Gefühls hatte, zeigt sein merkwürdiges Talent wieder,
was er vermag und was er uus werden könnte, wenn — wenn er erwerben kann,
was ihm noch fehlt.

In diesen ausgeführten Scenen ist auch die Sprache edel und in der Regel
wohllautend. An vielen andern Stellen sieht man, daß der Vers dem Dichter,
der eine so charakteristische, markige Prosa schreibt, noch Schwierigkeiten bereitet.
In dem Bestreben, klar zu sein, ist er oft undeutlich und rauh.

Wieder erkennen wir in diesem Stück ein dramatisches Talent, welches die vir¬
tuose Kraft hat, große tragische Gefühle in imponirender Weise durch hohes
Pathos und dramatisches Detail herauszubilden, aber wieder empfinden wir anch,
daß der Dichter die Eigenschaft noch nicht besitzt, eine dramatische Handlung in,
ihrem innern Verlaufe durch die Charaktere mit Freiheit und übersichtlicher Klar¬
heit zusammenzufassen, und es scheint uns, als ob er lebhafter und genauer die
pathetischen und leidenschaftlichem Ausbrüche einzelner Persönlichkeiten empfände,
als die Wirkung, welche die Charaktere in den Situationen ans einander ausüben,
jene Gebundenheit und jenes Zusammcnhandcln aller Einzelnen in der Situativ»,
welches i» seiner Combination den Gesammteindruck jeder Scene und jedes Theiles
der Handlung stark »ut kräftig heraustreiben wird. Es fehlt ihm noch die Fertigkeit, die
bedeutenden Menschen, welche er zusammengebeten hat, gesellschaftlich zusammenzuhal¬
ten, planmäßig nach einem bestimmten Ziel zu dirigire» und in jedem Augenblicke des
Zusammenspiels mit Sicherheit zu empfinden, was in der Seele eines jeden
Einzelnen von ihnen vorgehen muß.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/18>, abgerufen am 24.07.2024.