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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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gerechtfertigt, wenn durch den Urlaub oder den Abgang irgend eines der Sänger eine Lücke
entstanden ist, zu deren Ausfüllung Proben angestellt werden müssen. Nur ausnahms¬
weise dürfen größere Celebritäten der Oper, die das Publicum doch auch kennen lernen
möchte, vorgeführt werden, und diese Gastspiele dürfen eine gewisse Dauer nicht über¬
schreiten. Denn jedes Gastspiel stört den Zusammenhang, theils indem es ein schnelles
flüchtiges Einstudiren "euer Opern nöthig macht, theils weil es die Tradition und
Gewohnheit unterbricht. Vor Allem aber ein Gastspiel wie das der Frau v. Marra.
Bei der langen Dauer desselben wird der Geschmack, dem sie vorzugsweise huldigt, der
neuitalienische, und der damit unbedingt zusammenhängende Schlendrian dein Publicum
angewöhnt, die anderen Künstler werden in der ganzen Zeit fast gar nicht oder nur aus¬
nahmsweise beschäftigt, ihr künstlerisches Zusammenleben verliert allen Halt. Nun ist
Frau v. Marra außerdem große Virtuosin und verfährt, wie es in diesem Fall gewöhn¬
lich ist, den musikalischen Regeln und Gewohnheiten gegenüber mit souverainer Willkür.
Sie liebt es, in einem größern Stück in zwei verschiedenen großen Rollen aufzutreten;
so giebt sie z. B. in Robert dem Teufel sowol die Alice, als die Prinzessin, und um
das möglich zu machen, wird der zweite Act ausgelassen. Nächstens steht uns ein noch
größerer Genuß bevor; sie wird nämlich in den Hugucnottcn die Königin und die
Valentine zugleich singen, und da diese mehrfach neben einander auftrete", so wird für
diese Scenen die Rolle vorübergehend einer zweiten, resp, dritten Sängerin übertragen.
Das ist doch eine Wirthschaft, deren Absurdität Nichts an die Seite gesetzt werden kann.
Wenn die Stimmmittel der Frau v. Marra über das gewöhnliche Maß hinausgehen,
so mag sie zwei oder drei Opern an einem Abend hinter einander singen, aber ein jeder
Komponist, und wenn es Meyerbeer ist, hat das Recht, zu verlangen, daß seine Leistungen
nicht aus eine so unerhörte Weise zerrissen werden. -- Einen weiter" Uebelstand wollen
wir nur beiläufig erwähnen. Die Inspiration, mit der sie sich Takt und Rhythmus
nach augenblicklichem Ermessen zurechtlegt, ist von einem so unerhörten Umfang, daß
wir allen Glauben an Takt und Rhythmus verlieren. Das mag an sich sehr schon, es
mag auch vielleicht ein Fortschritt in der Kunst sein, denn da die Kunst gegenwärtig
g/mz in der Zukunft spielt, so ist es schwer, in irgend einem Punkt noch eine feste
Meinung zu bewahren, allein es ist jedenfalls gegen die Sitten und Ueberzeugungen
unsrer gewöhnlichen Musik und daher ganz dazu gemacht, das Orchester in die voll¬
ständigste Verwirrung zu setzen. Wäre Frau v. Marra dauernd engagirt, und wäre ihr
die Leitung des Theaters in die Hände gegeben, so ließe sich vielleicht mit der Zeit
eine künstlerische Einheit wieder herstellen, es würde dann nicht gesungen und gespielt,
wie es der Komponist gewollt hat, sondern wie es dem Geschmack der ausübenden
Künstlerin zusagt; allein das Gastspiel muß doch einmal ein Ende nehmen, die alte
Weise muß wieder zurückkehren, und alsdann würde es im höchsten Grade schwierig sein,
Musiker in die gewöhnte Ordnung wieder hinüber zu leiten, die allen Glauben an den
Viervierteltakt verloren haben. -- Alle diese Uebelstände sind um so mehr zu beklagen,
da in einzelnen Fällen, wo die gewöhnlichen Kräfte verwandt werden, z. B. bei der
Aufführung der "lustigen Weiber", das Theater gezeigt hat, daß es etwas sehr Gutes
leisten kann. --


Musik.

Musikalische Charaktcrköpfc. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch
von W. H. Nie si. (Stuttgart und Tübingen, Cotta.) -- In der Brockhaus'sehen "Ge-


gerechtfertigt, wenn durch den Urlaub oder den Abgang irgend eines der Sänger eine Lücke
entstanden ist, zu deren Ausfüllung Proben angestellt werden müssen. Nur ausnahms¬
weise dürfen größere Celebritäten der Oper, die das Publicum doch auch kennen lernen
möchte, vorgeführt werden, und diese Gastspiele dürfen eine gewisse Dauer nicht über¬
schreiten. Denn jedes Gastspiel stört den Zusammenhang, theils indem es ein schnelles
flüchtiges Einstudiren »euer Opern nöthig macht, theils weil es die Tradition und
Gewohnheit unterbricht. Vor Allem aber ein Gastspiel wie das der Frau v. Marra.
Bei der langen Dauer desselben wird der Geschmack, dem sie vorzugsweise huldigt, der
neuitalienische, und der damit unbedingt zusammenhängende Schlendrian dein Publicum
angewöhnt, die anderen Künstler werden in der ganzen Zeit fast gar nicht oder nur aus¬
nahmsweise beschäftigt, ihr künstlerisches Zusammenleben verliert allen Halt. Nun ist
Frau v. Marra außerdem große Virtuosin und verfährt, wie es in diesem Fall gewöhn¬
lich ist, den musikalischen Regeln und Gewohnheiten gegenüber mit souverainer Willkür.
Sie liebt es, in einem größern Stück in zwei verschiedenen großen Rollen aufzutreten;
so giebt sie z. B. in Robert dem Teufel sowol die Alice, als die Prinzessin, und um
das möglich zu machen, wird der zweite Act ausgelassen. Nächstens steht uns ein noch
größerer Genuß bevor; sie wird nämlich in den Hugucnottcn die Königin und die
Valentine zugleich singen, und da diese mehrfach neben einander auftrete», so wird für
diese Scenen die Rolle vorübergehend einer zweiten, resp, dritten Sängerin übertragen.
Das ist doch eine Wirthschaft, deren Absurdität Nichts an die Seite gesetzt werden kann.
Wenn die Stimmmittel der Frau v. Marra über das gewöhnliche Maß hinausgehen,
so mag sie zwei oder drei Opern an einem Abend hinter einander singen, aber ein jeder
Komponist, und wenn es Meyerbeer ist, hat das Recht, zu verlangen, daß seine Leistungen
nicht aus eine so unerhörte Weise zerrissen werden. — Einen weiter» Uebelstand wollen
wir nur beiläufig erwähnen. Die Inspiration, mit der sie sich Takt und Rhythmus
nach augenblicklichem Ermessen zurechtlegt, ist von einem so unerhörten Umfang, daß
wir allen Glauben an Takt und Rhythmus verlieren. Das mag an sich sehr schon, es
mag auch vielleicht ein Fortschritt in der Kunst sein, denn da die Kunst gegenwärtig
g/mz in der Zukunft spielt, so ist es schwer, in irgend einem Punkt noch eine feste
Meinung zu bewahren, allein es ist jedenfalls gegen die Sitten und Ueberzeugungen
unsrer gewöhnlichen Musik und daher ganz dazu gemacht, das Orchester in die voll¬
ständigste Verwirrung zu setzen. Wäre Frau v. Marra dauernd engagirt, und wäre ihr
die Leitung des Theaters in die Hände gegeben, so ließe sich vielleicht mit der Zeit
eine künstlerische Einheit wieder herstellen, es würde dann nicht gesungen und gespielt,
wie es der Komponist gewollt hat, sondern wie es dem Geschmack der ausübenden
Künstlerin zusagt; allein das Gastspiel muß doch einmal ein Ende nehmen, die alte
Weise muß wieder zurückkehren, und alsdann würde es im höchsten Grade schwierig sein,
Musiker in die gewöhnte Ordnung wieder hinüber zu leiten, die allen Glauben an den
Viervierteltakt verloren haben. — Alle diese Uebelstände sind um so mehr zu beklagen,
da in einzelnen Fällen, wo die gewöhnlichen Kräfte verwandt werden, z. B. bei der
Aufführung der „lustigen Weiber", das Theater gezeigt hat, daß es etwas sehr Gutes
leisten kann. —


Musik.

Musikalische Charaktcrköpfc. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch
von W. H. Nie si. (Stuttgart und Tübingen, Cotta.) — In der Brockhaus'sehen „Ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/164>, abgerufen am 27.12.2024.