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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band.

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-- Johann Sebastian Bach's Matthäus-Passion, musi¬
kalisch-ü sthetisch dargestellt von Johann Theodor Mvsewius. MitMu-
sikbcilageu. Berlin, Guttcntag. -- Dieses Buch erschien schon im Anfange des
verflossenen Jahres. Allein sein vortrefflicher Inhalt und die edle musikalische Gesin¬
nung veranlassen uns, wenigstens in einigen anerkennenden Worten, dem Verfasser für
seinen Fleiß und seine Hingebung zu danken. Das Werk enthalt eine sorgfältige Ana¬
lyse der Matthäus-Passion; die genaue Bekanntschaft des Verfassers mit jeder einzelnen
Note des Werkes macht es ihm möglich, die besonderen musikalischen Schönheiten deutlich
hervorzuheben, und aus diesen concreten Fällen den ästhetischen Inhalt zu demonstriren.
Diese Art und Weise, musikalische Werke zu erklären, ist gewiß die einzig richtige. Wir
sind jetzt nicht mehr daran gewohnt, und selbst die musikalischen Zeitungen, denen es
am meisten obliegt, durch praktische Winke und sorgfältige musikalische Beschreibungen
zu belehren, haben zum Theil diesen Weg Verlassen und gefallen sich häusig darin, mit
philosophischen Phrasen um sich zu werfen. Viele dieser Blätter sind deshalb in der
Achtung der Musiker gesunken; sie wirken nur noch unter den Dilettanten, welche, freilich,
aus Unkenntniß der musikalischen Wissenschaft, in diesen leeren Phrasen eine hohe Weis¬
heit zu erblicken glauben. Es wäre für einen gediegenen Musiker die dankbarste Auf¬
gabe, dem gebildeten Dilettanten die classischen Werke der Tonkunst durch eine Reihe
von Aufsätzen in ihren ästhetischen und musikalischen Schönheiten aus einander zu setzen,
so daß die minder Erfahrenen schon mit Hilfe eines Clavicranszugcs ein klares Ver¬
ständniß sich erwerben dürsten, die Gcrcistcrcn aber aus der Partitur selbst die höhere
Erkenntniß sich aneigneten. Die größeren Gcsangöwcrke würden zum Beginnen einer
solchen Aufgabe die geeignetsten sein; das der Musik beigegebene Wort bietet dem Er¬
klärer eine Menge Momente, in denen er sich dem Schüler ans verständliche Weise nä¬
hern kann. Die reinen Jnstrnmcntalwcrkc freilich bedingen ein wenigstens annäherndes Ver¬
stehen der musikalische Wissenschaft, außerdem aber auch eine gewisse natürliche Anlage.
Durch Hilft dieser letztem wird es leichter möglich sein, die musikalischen Gedanken
eines Andern zu durchdringen und mitzufühlen, als durch die seltsamen Commentare,
,die über die größeren Orchestcrwerke in der jüngsten Zeit von schwachen Musikern und
schlechten Aesthetikern für unmusikalische Dilettanten geschrieben worden sind.

Wer in dem Buche von MosewiuS eine Anzahl von Redensarten sucht, die er aus
leichte Weise sich anzueignen und in ästhetischen Theezirkcln zu verwerthen vermeint, der
irrt sich. Es tritt ihm hier ein tiefer Ernst entgegen; man sieht hier die Arbeit eines
Mannes, der mit dem, was er in einem langen und thätigen Leben für heilig achten
gelernt hat, nicht Scherz treibt, der Worte der Abwehr genug für Jene hat, die in
ihrer falschen Weisheit uns die ruhmwürdige Vergangenheit unsrer Tonkunst für eine
Chimäre erklären.

Um dem Versasser in seiner Darstellung der PassionSmusik zu folgen, ist es sür
den Leser nöthig, daß er sich die bei Schlcsingcr in Berlin erschienene Partitur oder
den Clavicrauszug zur Seite legt, ans welche sehr häufig hingewiesen ist. Mit diesen
Hilfsmitteln aber ist es leicht, den würdigen Vs. zu verstehen, denn seine Darstellung ist
sehr klar, weil sie sich auf große Kenntnisse stützt und durch ein warmes Gefühl ver¬
mittelt wird. Es giebt nur wenige Musik'gelehrte in Deutschland, welche in genauer
Kenntniß der alten Tonmeister, und insbesondere von I. S. Bach, mit MosewiuS wett¬
eisern dürften. Davon giebt fast jede Seite des Buches Zeugniß, und wir stoßen oft


Mttfib.

— Johann Sebastian Bach's Matthäus-Passion, musi¬
kalisch-ü sthetisch dargestellt von Johann Theodor Mvsewius. MitMu-
sikbcilageu. Berlin, Guttcntag. — Dieses Buch erschien schon im Anfange des
verflossenen Jahres. Allein sein vortrefflicher Inhalt und die edle musikalische Gesin¬
nung veranlassen uns, wenigstens in einigen anerkennenden Worten, dem Verfasser für
seinen Fleiß und seine Hingebung zu danken. Das Werk enthalt eine sorgfältige Ana¬
lyse der Matthäus-Passion; die genaue Bekanntschaft des Verfassers mit jeder einzelnen
Note des Werkes macht es ihm möglich, die besonderen musikalischen Schönheiten deutlich
hervorzuheben, und aus diesen concreten Fällen den ästhetischen Inhalt zu demonstriren.
Diese Art und Weise, musikalische Werke zu erklären, ist gewiß die einzig richtige. Wir
sind jetzt nicht mehr daran gewohnt, und selbst die musikalischen Zeitungen, denen es
am meisten obliegt, durch praktische Winke und sorgfältige musikalische Beschreibungen
zu belehren, haben zum Theil diesen Weg Verlassen und gefallen sich häusig darin, mit
philosophischen Phrasen um sich zu werfen. Viele dieser Blätter sind deshalb in der
Achtung der Musiker gesunken; sie wirken nur noch unter den Dilettanten, welche, freilich,
aus Unkenntniß der musikalischen Wissenschaft, in diesen leeren Phrasen eine hohe Weis¬
heit zu erblicken glauben. Es wäre für einen gediegenen Musiker die dankbarste Auf¬
gabe, dem gebildeten Dilettanten die classischen Werke der Tonkunst durch eine Reihe
von Aufsätzen in ihren ästhetischen und musikalischen Schönheiten aus einander zu setzen,
so daß die minder Erfahrenen schon mit Hilfe eines Clavicranszugcs ein klares Ver¬
ständniß sich erwerben dürsten, die Gcrcistcrcn aber aus der Partitur selbst die höhere
Erkenntniß sich aneigneten. Die größeren Gcsangöwcrke würden zum Beginnen einer
solchen Aufgabe die geeignetsten sein; das der Musik beigegebene Wort bietet dem Er¬
klärer eine Menge Momente, in denen er sich dem Schüler ans verständliche Weise nä¬
hern kann. Die reinen Jnstrnmcntalwcrkc freilich bedingen ein wenigstens annäherndes Ver¬
stehen der musikalische Wissenschaft, außerdem aber auch eine gewisse natürliche Anlage.
Durch Hilft dieser letztem wird es leichter möglich sein, die musikalischen Gedanken
eines Andern zu durchdringen und mitzufühlen, als durch die seltsamen Commentare,
,die über die größeren Orchestcrwerke in der jüngsten Zeit von schwachen Musikern und
schlechten Aesthetikern für unmusikalische Dilettanten geschrieben worden sind.

Wer in dem Buche von MosewiuS eine Anzahl von Redensarten sucht, die er aus
leichte Weise sich anzueignen und in ästhetischen Theezirkcln zu verwerthen vermeint, der
irrt sich. Es tritt ihm hier ein tiefer Ernst entgegen; man sieht hier die Arbeit eines
Mannes, der mit dem, was er in einem langen und thätigen Leben für heilig achten
gelernt hat, nicht Scherz treibt, der Worte der Abwehr genug für Jene hat, die in
ihrer falschen Weisheit uns die ruhmwürdige Vergangenheit unsrer Tonkunst für eine
Chimäre erklären.

Um dem Versasser in seiner Darstellung der PassionSmusik zu folgen, ist es sür
den Leser nöthig, daß er sich die bei Schlcsingcr in Berlin erschienene Partitur oder
den Clavicrauszug zur Seite legt, ans welche sehr häufig hingewiesen ist. Mit diesen
Hilfsmitteln aber ist es leicht, den würdigen Vs. zu verstehen, denn seine Darstellung ist
sehr klar, weil sie sich auf große Kenntnisse stützt und durch ein warmes Gefühl ver¬
mittelt wird. Es giebt nur wenige Musik'gelehrte in Deutschland, welche in genauer
Kenntniß der alten Tonmeister, und insbesondere von I. S. Bach, mit MosewiuS wett¬
eisern dürften. Davon giebt fast jede Seite des Buches Zeugniß, und wir stoßen oft


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_185875/127>, abgerufen am 27.12.2024.