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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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und durchgedacht werden, ehe sie so zubereitet sich auf die übrigen Schichten des
Volks ausdehnen konnte. Daher hat sie anch später immer eine Tendenz nach
dem vornehmen Wesen gehabt, und selbst jene Schriftsteller, die mit allem Bestehen¬
den reinen Tisch zu macheu schienen, Heine an der Spitze, haben vorzugsweise
für die Aristokratie geschrieben.

Der ideelle Mittelpunkt dieser abgeschlossenen Welt der Kunst, Weimar
und Jena, reichte für die Propaganda uicht aus. Wir müssen Berlin als den¬
jenigen Ort bezeichnen, wo die eigentliche Wirksamkeit der Schule begann; und
zwar waren es vorzugsweise die Gesellschaften der reichen Juden, die ihren Kindern
eine weit über das gewöhnliche Niveau hinausreichende Erziehung zu Theil werden
ließen, in denen jene Schöngeister sich versammelten. Es ist darüber neuerdings
ein lehrreiches Buch erschienen: "Das Leben der Henriette Herz, von
Fürst," welches wir seiner Zeit besprochen haben. Man lernt daraus, wie die
Gegensätze sich neutralistrten, wie die junge Aristokratie, den Prinzen Louis
Ferdinand an der Spitze, sich mit dem Kreise der Geistreichen zusammenfand und
auf ihn eben so einwirkte, wie seinen Einfluß empfing. Prinz Louis Ferdinand
ist auf unsre Literatur von uicht unbedeutenden Einfluß gewesen. Einem Fürsten,
der durch seinen Stand in allzu enge sittliche Traditionen gezwängt ist, sieht'
mau den Bruch dieser Verhältnisse gern nach, wenn er mit vornehmer Grazie
ausgeführt wird. Das wirkt dann wieder auf die sittlichen Begriffe der bürger¬
lichen Kreise zurück, mit denen er sich zusammenfindet. Wir sehen die Maitressen
des Prinzen sich ganz ungenirt und ebenbürtig in jenen Kreisen bewegen, und es wird
über jene exceptionellen sittlichen Verhältnisse gedacht und empfunden, als wenn
sie der einfache Ausdruck der menschlichen Natur wären. So bringt denn auch
Gentz, der angehende Diplomat, und nach ihm die übrigen Diplomaten, ihr
der bürgerlichen West sonst entgegengesetztes ästhetisch-moralisches Bewußtsein
unbefangen an's Tageslicht, und es wird dadurch eine Sophistik des Herzens, ein
Raffinement der Empfindung und eine Virtuosität in Stimmungen und Leidenschaften
genährt, in welcher das ätzende Wesen der jüdischen Bildung ein nicht unwesentliches
Moment war, und welches allein das Erscheinen und die Verbreitung solcher
Bücher, wie Schlegel's Lucinde, begreiflich macht. Wo die Individualität sich
selber so anbetet, daß sie jede Regung in sich verachtet, die mit den gewöhnlichen
Begriffen der übrigen Menschen etwas gemein hat, kann man sich wohl denken,
daß ein so auffallend nüchterner Mensch, wie A. W.-Schlegel, auf solche Begriffe
geriet!), wie die, welche er in seinen Berliner Vorlesungen vor einem gemischten
Publicum 1802 entwickelte. Da war ihm selbst der Katholicismus, auf den er
sonst in poetischer Beziehung sehr viel hielt, nicht mehr gut genug. Er empfahl
seinen Damen, nach Indien zu pilgern, wo man wenigstens noch Spuren der
echten Religion finden könne, für welche das europäische Klima sich unfähig er¬
wiesen habe. Man muß nicht glauben, daß die Gardelieutenants im Gefolge


und durchgedacht werden, ehe sie so zubereitet sich auf die übrigen Schichten des
Volks ausdehnen konnte. Daher hat sie anch später immer eine Tendenz nach
dem vornehmen Wesen gehabt, und selbst jene Schriftsteller, die mit allem Bestehen¬
den reinen Tisch zu macheu schienen, Heine an der Spitze, haben vorzugsweise
für die Aristokratie geschrieben.

Der ideelle Mittelpunkt dieser abgeschlossenen Welt der Kunst, Weimar
und Jena, reichte für die Propaganda uicht aus. Wir müssen Berlin als den¬
jenigen Ort bezeichnen, wo die eigentliche Wirksamkeit der Schule begann; und
zwar waren es vorzugsweise die Gesellschaften der reichen Juden, die ihren Kindern
eine weit über das gewöhnliche Niveau hinausreichende Erziehung zu Theil werden
ließen, in denen jene Schöngeister sich versammelten. Es ist darüber neuerdings
ein lehrreiches Buch erschienen: „Das Leben der Henriette Herz, von
Fürst," welches wir seiner Zeit besprochen haben. Man lernt daraus, wie die
Gegensätze sich neutralistrten, wie die junge Aristokratie, den Prinzen Louis
Ferdinand an der Spitze, sich mit dem Kreise der Geistreichen zusammenfand und
auf ihn eben so einwirkte, wie seinen Einfluß empfing. Prinz Louis Ferdinand
ist auf unsre Literatur von uicht unbedeutenden Einfluß gewesen. Einem Fürsten,
der durch seinen Stand in allzu enge sittliche Traditionen gezwängt ist, sieht'
mau den Bruch dieser Verhältnisse gern nach, wenn er mit vornehmer Grazie
ausgeführt wird. Das wirkt dann wieder auf die sittlichen Begriffe der bürger¬
lichen Kreise zurück, mit denen er sich zusammenfindet. Wir sehen die Maitressen
des Prinzen sich ganz ungenirt und ebenbürtig in jenen Kreisen bewegen, und es wird
über jene exceptionellen sittlichen Verhältnisse gedacht und empfunden, als wenn
sie der einfache Ausdruck der menschlichen Natur wären. So bringt denn auch
Gentz, der angehende Diplomat, und nach ihm die übrigen Diplomaten, ihr
der bürgerlichen West sonst entgegengesetztes ästhetisch-moralisches Bewußtsein
unbefangen an's Tageslicht, und es wird dadurch eine Sophistik des Herzens, ein
Raffinement der Empfindung und eine Virtuosität in Stimmungen und Leidenschaften
genährt, in welcher das ätzende Wesen der jüdischen Bildung ein nicht unwesentliches
Moment war, und welches allein das Erscheinen und die Verbreitung solcher
Bücher, wie Schlegel's Lucinde, begreiflich macht. Wo die Individualität sich
selber so anbetet, daß sie jede Regung in sich verachtet, die mit den gewöhnlichen
Begriffen der übrigen Menschen etwas gemein hat, kann man sich wohl denken,
daß ein so auffallend nüchterner Mensch, wie A. W.-Schlegel, auf solche Begriffe
geriet!), wie die, welche er in seinen Berliner Vorlesungen vor einem gemischten
Publicum 1802 entwickelte. Da war ihm selbst der Katholicismus, auf den er
sonst in poetischer Beziehung sehr viel hielt, nicht mehr gut genug. Er empfahl
seinen Damen, nach Indien zu pilgern, wo man wenigstens noch Spuren der
echten Religion finden könne, für welche das europäische Klima sich unfähig er¬
wiesen habe. Man muß nicht glauben, daß die Gardelieutenants im Gefolge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/55>, abgerufen am 20.10.2024.