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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band.

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wünschten wir etwas mehr Realität; die Leute sehn fast durchgängig neu, wie aus
einer Theatergarderobe versehen ans: namentlich der Gefangene, der bei dem
Herumbalgen, das doch vermuthlich seiner Gefangenschaft vorausging, sein Costum
zu sauber erhalten hat; selbst die Bandroscttcn ans den Schuhen sind vollkommen
unversehrt. Dergleichen kleinen Zügen sollte Lessing mehr Aufmerksamkeit schen¬
ken; sie würden das innere Leben, welches in Ausdruck und Bewegung seiner
Figuren liegt, äußerlich zu plastischerer Erscheinung bringen.

Kraus. Ein Leichenbegängnis). Ein Leichenzug kommt durch einen Wald,
ein kleiner bescheidener Sarg, vor und um ihn einige alte Männer (Cantor,
Küster und dergleichen) und eine alte Frau, voraus junge Mädchen und Knabe".
Ein Verbrecher, der von irgend einem Individuum der Landmiliz oder dergleichen
transportirt wird, ist in der Enge des Waldweges gezwungen, zu warten, bis
der Leichenzug vorbeipassirt ist. Unter den dem Zug vorangehenden Kindern
fällt uns vor Allem ein halberwachsenes Mädchen auf, dessen blondes Köpfchen
eben so viel reizende Anmuth, als reine Unschuld zeigt. Der Künstler hat sie
absichtlich als Hauptfigur hervorgehoben; während alle Figuren hinter ihr be¬
schattet sind, trifft sie in der dunkeln Umgebung schon der volle helle Lichtstrahl,
sie sieht scheu uach dem am Wege wartenden Verbrecher, auf dessen Physiognomie
das Gepräge verstockter Bosheit und gemeinster Verworfenheit tief eingedrückt
ist. Wir kommen auf allerlei Vermuthungen, in welcher Beziehung diese beiden
Figuren zu einander, zu dem Todten, der eben hinausgetragen wird, und zum
ganzen Bilde stehen mögen. Wir denken dieses und jenes, und Nichts will
passen.

Der Grund liegt darin, daß der Maler selbst sich nichts dabei gedacht hat;
es lag ihm nur daran, zwei entschieden contrastirende Charaktere, das unberühr¬
teste, unschuldigste Geschöpf ju der Gestalt jenes Mädchens, und den verwahr-
losetsten, corrumpirtesten Bösewicht gegen einander zu stellen. Was thut nun das
Leichenbegängniß mit allen den lieben Kindern und singenden alten und jungen
Leuten dabei? Der Künstler wird uns die Antwort, schuldig bleiben müssen.
Er mochte uns den ganzen Leichenzug geben; dann mußte aber der Verbrecher
am Wege wegbleiben, der nichts mit ihm zu thun hat, als auf ihn zu warten.
Herr Kraus hat uns Figuren zusammengestellt, und zwar vortreffliche Figuren,
aber er hat die in ihnen enthaltenen Motive nicht in einen künstlerischen Zusam¬
menhang zu bringen gewußt. Er weiß nicht oder er hat es vergessen, daß ein
Kunstwerk aus einer Idee von innen heraus geschaffen werden muß, nicht aus
Motiven, die, wie im Leben, zufällig neben einander stehen. Gerade einem so
höchst talentvollen Künstler wie Herrn Kraus wünschten wir, daß er diesen ersten
aller künstlerischen Grundsätze beherzige, da er dann Außerordentliches zu leisten
vermöchte. Herr Kraus besitzt ein Talent, Physiognomien aufzufassen, das uns
auch in diesem Bilde bei jedem einzelnen Kopfe und jeder Gestalt von neuem


wünschten wir etwas mehr Realität; die Leute sehn fast durchgängig neu, wie aus
einer Theatergarderobe versehen ans: namentlich der Gefangene, der bei dem
Herumbalgen, das doch vermuthlich seiner Gefangenschaft vorausging, sein Costum
zu sauber erhalten hat; selbst die Bandroscttcn ans den Schuhen sind vollkommen
unversehrt. Dergleichen kleinen Zügen sollte Lessing mehr Aufmerksamkeit schen¬
ken; sie würden das innere Leben, welches in Ausdruck und Bewegung seiner
Figuren liegt, äußerlich zu plastischerer Erscheinung bringen.

Kraus. Ein Leichenbegängnis). Ein Leichenzug kommt durch einen Wald,
ein kleiner bescheidener Sarg, vor und um ihn einige alte Männer (Cantor,
Küster und dergleichen) und eine alte Frau, voraus junge Mädchen und Knabe».
Ein Verbrecher, der von irgend einem Individuum der Landmiliz oder dergleichen
transportirt wird, ist in der Enge des Waldweges gezwungen, zu warten, bis
der Leichenzug vorbeipassirt ist. Unter den dem Zug vorangehenden Kindern
fällt uns vor Allem ein halberwachsenes Mädchen auf, dessen blondes Köpfchen
eben so viel reizende Anmuth, als reine Unschuld zeigt. Der Künstler hat sie
absichtlich als Hauptfigur hervorgehoben; während alle Figuren hinter ihr be¬
schattet sind, trifft sie in der dunkeln Umgebung schon der volle helle Lichtstrahl,
sie sieht scheu uach dem am Wege wartenden Verbrecher, auf dessen Physiognomie
das Gepräge verstockter Bosheit und gemeinster Verworfenheit tief eingedrückt
ist. Wir kommen auf allerlei Vermuthungen, in welcher Beziehung diese beiden
Figuren zu einander, zu dem Todten, der eben hinausgetragen wird, und zum
ganzen Bilde stehen mögen. Wir denken dieses und jenes, und Nichts will
passen.

Der Grund liegt darin, daß der Maler selbst sich nichts dabei gedacht hat;
es lag ihm nur daran, zwei entschieden contrastirende Charaktere, das unberühr¬
teste, unschuldigste Geschöpf ju der Gestalt jenes Mädchens, und den verwahr-
losetsten, corrumpirtesten Bösewicht gegen einander zu stellen. Was thut nun das
Leichenbegängniß mit allen den lieben Kindern und singenden alten und jungen
Leuten dabei? Der Künstler wird uns die Antwort, schuldig bleiben müssen.
Er mochte uns den ganzen Leichenzug geben; dann mußte aber der Verbrecher
am Wege wegbleiben, der nichts mit ihm zu thun hat, als auf ihn zu warten.
Herr Kraus hat uns Figuren zusammengestellt, und zwar vortreffliche Figuren,
aber er hat die in ihnen enthaltenen Motive nicht in einen künstlerischen Zusam¬
menhang zu bringen gewußt. Er weiß nicht oder er hat es vergessen, daß ein
Kunstwerk aus einer Idee von innen heraus geschaffen werden muß, nicht aus
Motiven, die, wie im Leben, zufällig neben einander stehen. Gerade einem so
höchst talentvollen Künstler wie Herrn Kraus wünschten wir, daß er diesen ersten
aller künstlerischen Grundsätze beherzige, da er dann Außerordentliches zu leisten
vermöchte. Herr Kraus besitzt ein Talent, Physiognomien aufzufassen, das uns
auch in diesem Bilde bei jedem einzelnen Kopfe und jeder Gestalt von neuem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94982/240>, abgerufen am 19.10.2024.