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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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gewesen, sich auch nur einmal zu einem großem Gedichte zusammenzuraffen,
wie etwa Goethe in Alexis und Dora, Euphrosyne, Schiller in den Göttern
Griechenlands u. s. w. Man hat dabei vergesse", daß die Welt der Empfindung
immer von vorhergehenden Gedanken zehren muß, und daß, wenn nicht neue
Gedanken producirt werden, die Empfindung nothwendig versumpft. In der
östreichischen Dichterschule, Lenau, Anastasius Grün, Meißner u. s. w., ist man
zwar von der bloßen Empfindung abgegangen und hat sich wieder ans Gedanken
geworfen, aber man hat es auf eine genrehafte Weise gethan, man hat mit gege¬
benen Gedanken Fangball gespielt und niedliche Arabesken daraus zusammengesetzt.
Man ist bei der Gewohnheit des Details so bequem und so vornehm geworden, daß
man mit einem gewissen Mitleid auf Schiller herabsieht, der doch mitunter in
einer einzigen Strophe mehr geistigen Inhalt hat, als die gesammte moderne
Lyrik in Goldschnitleiubänden und mit Vignetten. Es wird aber auch hier bald
eine Reaction eintreten, und man wird allmählich begreisen, daß wir auch in der
' Lyrik seit Goethe und Schiller keinen wirklichen Fortschritt gemacht haben. Was
den Erstem betrifft, müssen wir noch die Bemerkung hinzufügen, daß seine neuere >
Lyrik, namentlich der westöstliche Divan, trotz des viel großem Reichthums an
Farben und Linien, in das moderne Genre gehört. Man lasse sich z. B. das
bekannte Lied: "Ach um deine feuchten Schwingen n. s. w." in der Mendels-
sohn'schen Komposition vorsingen, und man wird finden, daß wol die allgemeine >
Stimmung klar.ist, daß man aber den einzelnen Ausdrücken nicht die geringste
Aufmerksamkeit schenkt. Das war bei deu früheren Liedern, bei dem Fischer, dem
Erlkönig u. s. w. doch anders. An Zierlichkeit sind diese östlichen Gemälde un¬
übertrefflich, aber man merkt ihnen doch an, daß sie nicht aus vollem Holze
geschnitten sind.

In Heine's Lyrik einerseits, wie in der materialistischen Poesie Freiligrath's
andererseits ist zwar bereits eine Reaction gegen diese conventionelle Empfindsam¬
keit eingetreten, allein diese Reaction hat das Wesen der Sache nicht getroffen.
Heine hat in der Auswahl seiner Figuren und Empfindungen zwar eine viel grö¬
ßere Freiheit entwickelt, und er hat in widerstrebenden Accorden mit einer Vir¬
tuosität ohne Gleichen gespielt; ob zum wahren Nutzen der Kunst, möchte dahin¬
gestellt sein; aber diejenigen seiner Lieder, die eigentlich den Komponisten reizen,
sind wol üppiger, blühender., als die Uhland'schen, aber im Grunde noch in
demselben Genre; denn daß er die Gelbveiglein durch Lotosblumen ersetzt, und
die Schäfer und Ritter durch blasirte Dichter, ist kein principieller Unterschied.

Zum Schluß möchten wir noch einen Vergleich aufführen, der nahe liegt,
den wir aber bisher vermieden haben, weil er uns von unsrem eigentlichen Wege
ableitet, den Vergleich mit Bvranger. Beranger drückt die Nationalität der
Franzosen, -- wohl gemerkt, seiner Periode -- eben so deutlich ans, als Uhland
die burschenschaftliche Periode der Deutschen. An Correctheit, Eleganz des


Grenzboten. III. -I8ö2, 7

gewesen, sich auch nur einmal zu einem großem Gedichte zusammenzuraffen,
wie etwa Goethe in Alexis und Dora, Euphrosyne, Schiller in den Göttern
Griechenlands u. s. w. Man hat dabei vergesse», daß die Welt der Empfindung
immer von vorhergehenden Gedanken zehren muß, und daß, wenn nicht neue
Gedanken producirt werden, die Empfindung nothwendig versumpft. In der
östreichischen Dichterschule, Lenau, Anastasius Grün, Meißner u. s. w., ist man
zwar von der bloßen Empfindung abgegangen und hat sich wieder ans Gedanken
geworfen, aber man hat es auf eine genrehafte Weise gethan, man hat mit gege¬
benen Gedanken Fangball gespielt und niedliche Arabesken daraus zusammengesetzt.
Man ist bei der Gewohnheit des Details so bequem und so vornehm geworden, daß
man mit einem gewissen Mitleid auf Schiller herabsieht, der doch mitunter in
einer einzigen Strophe mehr geistigen Inhalt hat, als die gesammte moderne
Lyrik in Goldschnitleiubänden und mit Vignetten. Es wird aber auch hier bald
eine Reaction eintreten, und man wird allmählich begreisen, daß wir auch in der
' Lyrik seit Goethe und Schiller keinen wirklichen Fortschritt gemacht haben. Was
den Erstem betrifft, müssen wir noch die Bemerkung hinzufügen, daß seine neuere >
Lyrik, namentlich der westöstliche Divan, trotz des viel großem Reichthums an
Farben und Linien, in das moderne Genre gehört. Man lasse sich z. B. das
bekannte Lied: „Ach um deine feuchten Schwingen n. s. w." in der Mendels-
sohn'schen Komposition vorsingen, und man wird finden, daß wol die allgemeine >
Stimmung klar.ist, daß man aber den einzelnen Ausdrücken nicht die geringste
Aufmerksamkeit schenkt. Das war bei deu früheren Liedern, bei dem Fischer, dem
Erlkönig u. s. w. doch anders. An Zierlichkeit sind diese östlichen Gemälde un¬
übertrefflich, aber man merkt ihnen doch an, daß sie nicht aus vollem Holze
geschnitten sind.

In Heine's Lyrik einerseits, wie in der materialistischen Poesie Freiligrath's
andererseits ist zwar bereits eine Reaction gegen diese conventionelle Empfindsam¬
keit eingetreten, allein diese Reaction hat das Wesen der Sache nicht getroffen.
Heine hat in der Auswahl seiner Figuren und Empfindungen zwar eine viel grö¬
ßere Freiheit entwickelt, und er hat in widerstrebenden Accorden mit einer Vir¬
tuosität ohne Gleichen gespielt; ob zum wahren Nutzen der Kunst, möchte dahin¬
gestellt sein; aber diejenigen seiner Lieder, die eigentlich den Komponisten reizen,
sind wol üppiger, blühender., als die Uhland'schen, aber im Grunde noch in
demselben Genre; denn daß er die Gelbveiglein durch Lotosblumen ersetzt, und
die Schäfer und Ritter durch blasirte Dichter, ist kein principieller Unterschied.

Zum Schluß möchten wir noch einen Vergleich aufführen, der nahe liegt,
den wir aber bisher vermieden haben, weil er uns von unsrem eigentlichen Wege
ableitet, den Vergleich mit Bvranger. Beranger drückt die Nationalität der
Franzosen, — wohl gemerkt, seiner Periode — eben so deutlich ans, als Uhland
die burschenschaftliche Periode der Deutschen. An Correctheit, Eleganz des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/61>, abgerufen am 22.12.2024.