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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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sein Werk aus der Ueberzeugung hervorgehen ließ, "daß gerade die Hygieine in
wissenschaftlicher sowol als praktisch-künstlerischer Hinsicht von der höchsten
Bedeutung für Aerzte, Studirende (aller Fächer), wie am Ende für jeden
Menschen, trotzdem aber eines der verwahrlosesten Fächer sei -- in Deutschland
wenigstens."

In Deutschland wenigstens - dieses Wort trifft gar so hart, weil es so
erschreckend wahr ist. Wer sich nur ein wenig um die eigentlichen Begrnndnngs-
wissenschaften der Gesundheitslehre höheren Styles, also derjenigen medicinischen
Erfahrungswissenschaft kümmerte, welche so untrennbar mit der praktischen Politik
verknüpft und verflochten ist, der wird diese herbe Anklage unterstützen müssen.
Haben wir doch für die nach der gesundheitswissenschaftlichen Seite neigende
Thätigkeit des Staatsmannes sogar nur den bornirten Begriff der "Gesundheits-
polizei." Gleich als ob der arme Deutsche sogar zum Wohlbefinden mir durch
Polizeiliche Zwangsmittel zu bringen wäre -- vielleicht auch, als ob er eines
polizeilichen Erlaubnißscheins bedürfte, um sich als gesund betrachten zu dürfen. Frei¬
lich Gesuudheitspolitik klänge wieder anderen Ohren noch mißliebiger, weil darin
jedenfalls sehr viel von "naturgemäßen Voraussetzungen, nothwendigen Forderun¬
gen, eingeborenen Gesetzen" und dergleichen ungehörigen Dingen die Rede sein
müßte; weil am Ende gar die Gesetze unsrer Natur mit Ministerialerlasseu, Kreis¬
ausschreiben oder polizeilichen Ermessen in praktische Conflicte kommen möchten. Daran
dürfen wir loyalen Leute aber gar nicht denken, daß auch auf staatsmännischem
Gebiete als Wahrheit vollgiltig sein konnte, was Oesterlen speciell auf das
wcdicinische bezieht, indem er sagt: "Von gewöhnlichen populairen Gesundheits¬
lehren freilich soll hier nicht die Rede sein; an solchen und zum Theil trefflichen
fehlt es nicht. Auch liegt diesem Werke nicht sowol die Absicht zu Grunde, mehr
oder minder gute Gesundheits- und Lebensregeln zu geben, als vielmehr das
Verständniß unsrer Gesundheits- und Lebensbedingungen, die Einsicht in die
Wirkungsweise aller auf den Menschen und sein Befinden inflnenzirenden Einflüsse
von außen wie immenser zu fördern, damit aber deren richtigste und zuträglichste
Handhabung. Das Gesetzmäßige, nach welchem hier Alles geschieht und vor
sich geht, sollte ganz besonders ausgemittelt, überhaupt auf die wissenschaftliche
Seite unsrer Hygieine -- so weit eine solche bis heut existirt -- das Hauptge¬
wicht gelegt werden, ohne deshalb die praktisch-künstlerische Seite zu vernachlässi¬
gen. Hierin gerade schien mir das Hauptbedürfniß unsrer Zeit und das Haupt-
verdienst der Hygieine zu liegen . .. Statt hunderterlei Leiden und Seuchen so
oft vergeblich zu bekämpfen, müßten wir sie vielmehr lieber verhüten oder durch
eine gesuudheitgcmäße Stellung aller LebeusverlMnisse, nicht gerade blos durch
Arzneien u. tgi., zu beseitigen lernen .... Weil aber richtige Zahlen überall
noch die sichersten Folgerungen zulassen und schon deshalb am besten zu überzeugen
Pflegen, wurden in einem Anhange die Belege neuerer statistischer Forschungen


sein Werk aus der Ueberzeugung hervorgehen ließ, „daß gerade die Hygieine in
wissenschaftlicher sowol als praktisch-künstlerischer Hinsicht von der höchsten
Bedeutung für Aerzte, Studirende (aller Fächer), wie am Ende für jeden
Menschen, trotzdem aber eines der verwahrlosesten Fächer sei — in Deutschland
wenigstens."

In Deutschland wenigstens - dieses Wort trifft gar so hart, weil es so
erschreckend wahr ist. Wer sich nur ein wenig um die eigentlichen Begrnndnngs-
wissenschaften der Gesundheitslehre höheren Styles, also derjenigen medicinischen
Erfahrungswissenschaft kümmerte, welche so untrennbar mit der praktischen Politik
verknüpft und verflochten ist, der wird diese herbe Anklage unterstützen müssen.
Haben wir doch für die nach der gesundheitswissenschaftlichen Seite neigende
Thätigkeit des Staatsmannes sogar nur den bornirten Begriff der „Gesundheits-
polizei." Gleich als ob der arme Deutsche sogar zum Wohlbefinden mir durch
Polizeiliche Zwangsmittel zu bringen wäre — vielleicht auch, als ob er eines
polizeilichen Erlaubnißscheins bedürfte, um sich als gesund betrachten zu dürfen. Frei¬
lich Gesuudheitspolitik klänge wieder anderen Ohren noch mißliebiger, weil darin
jedenfalls sehr viel von „naturgemäßen Voraussetzungen, nothwendigen Forderun¬
gen, eingeborenen Gesetzen" und dergleichen ungehörigen Dingen die Rede sein
müßte; weil am Ende gar die Gesetze unsrer Natur mit Ministerialerlasseu, Kreis¬
ausschreiben oder polizeilichen Ermessen in praktische Conflicte kommen möchten. Daran
dürfen wir loyalen Leute aber gar nicht denken, daß auch auf staatsmännischem
Gebiete als Wahrheit vollgiltig sein konnte, was Oesterlen speciell auf das
wcdicinische bezieht, indem er sagt: „Von gewöhnlichen populairen Gesundheits¬
lehren freilich soll hier nicht die Rede sein; an solchen und zum Theil trefflichen
fehlt es nicht. Auch liegt diesem Werke nicht sowol die Absicht zu Grunde, mehr
oder minder gute Gesundheits- und Lebensregeln zu geben, als vielmehr das
Verständniß unsrer Gesundheits- und Lebensbedingungen, die Einsicht in die
Wirkungsweise aller auf den Menschen und sein Befinden inflnenzirenden Einflüsse
von außen wie immenser zu fördern, damit aber deren richtigste und zuträglichste
Handhabung. Das Gesetzmäßige, nach welchem hier Alles geschieht und vor
sich geht, sollte ganz besonders ausgemittelt, überhaupt auf die wissenschaftliche
Seite unsrer Hygieine — so weit eine solche bis heut existirt — das Hauptge¬
wicht gelegt werden, ohne deshalb die praktisch-künstlerische Seite zu vernachlässi¬
gen. Hierin gerade schien mir das Hauptbedürfniß unsrer Zeit und das Haupt-
verdienst der Hygieine zu liegen . .. Statt hunderterlei Leiden und Seuchen so
oft vergeblich zu bekämpfen, müßten wir sie vielmehr lieber verhüten oder durch
eine gesuudheitgcmäße Stellung aller LebeusverlMnisse, nicht gerade blos durch
Arzneien u. tgi., zu beseitigen lernen .... Weil aber richtige Zahlen überall
noch die sichersten Folgerungen zulassen und schon deshalb am besten zu überzeugen
Pflegen, wurden in einem Anhange die Belege neuerer statistischer Forschungen


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[0507] sein Werk aus der Ueberzeugung hervorgehen ließ, „daß gerade die Hygieine in wissenschaftlicher sowol als praktisch-künstlerischer Hinsicht von der höchsten Bedeutung für Aerzte, Studirende (aller Fächer), wie am Ende für jeden Menschen, trotzdem aber eines der verwahrlosesten Fächer sei — in Deutschland wenigstens." In Deutschland wenigstens - dieses Wort trifft gar so hart, weil es so erschreckend wahr ist. Wer sich nur ein wenig um die eigentlichen Begrnndnngs- wissenschaften der Gesundheitslehre höheren Styles, also derjenigen medicinischen Erfahrungswissenschaft kümmerte, welche so untrennbar mit der praktischen Politik verknüpft und verflochten ist, der wird diese herbe Anklage unterstützen müssen. Haben wir doch für die nach der gesundheitswissenschaftlichen Seite neigende Thätigkeit des Staatsmannes sogar nur den bornirten Begriff der „Gesundheits- polizei." Gleich als ob der arme Deutsche sogar zum Wohlbefinden mir durch Polizeiliche Zwangsmittel zu bringen wäre — vielleicht auch, als ob er eines polizeilichen Erlaubnißscheins bedürfte, um sich als gesund betrachten zu dürfen. Frei¬ lich Gesuudheitspolitik klänge wieder anderen Ohren noch mißliebiger, weil darin jedenfalls sehr viel von „naturgemäßen Voraussetzungen, nothwendigen Forderun¬ gen, eingeborenen Gesetzen" und dergleichen ungehörigen Dingen die Rede sein müßte; weil am Ende gar die Gesetze unsrer Natur mit Ministerialerlasseu, Kreis¬ ausschreiben oder polizeilichen Ermessen in praktische Conflicte kommen möchten. Daran dürfen wir loyalen Leute aber gar nicht denken, daß auch auf staatsmännischem Gebiete als Wahrheit vollgiltig sein konnte, was Oesterlen speciell auf das wcdicinische bezieht, indem er sagt: „Von gewöhnlichen populairen Gesundheits¬ lehren freilich soll hier nicht die Rede sein; an solchen und zum Theil trefflichen fehlt es nicht. Auch liegt diesem Werke nicht sowol die Absicht zu Grunde, mehr oder minder gute Gesundheits- und Lebensregeln zu geben, als vielmehr das Verständniß unsrer Gesundheits- und Lebensbedingungen, die Einsicht in die Wirkungsweise aller auf den Menschen und sein Befinden inflnenzirenden Einflüsse von außen wie immenser zu fördern, damit aber deren richtigste und zuträglichste Handhabung. Das Gesetzmäßige, nach welchem hier Alles geschieht und vor sich geht, sollte ganz besonders ausgemittelt, überhaupt auf die wissenschaftliche Seite unsrer Hygieine — so weit eine solche bis heut existirt — das Hauptge¬ wicht gelegt werden, ohne deshalb die praktisch-künstlerische Seite zu vernachlässi¬ gen. Hierin gerade schien mir das Hauptbedürfniß unsrer Zeit und das Haupt- verdienst der Hygieine zu liegen . .. Statt hunderterlei Leiden und Seuchen so oft vergeblich zu bekämpfen, müßten wir sie vielmehr lieber verhüten oder durch eine gesuudheitgcmäße Stellung aller LebeusverlMnisse, nicht gerade blos durch Arzneien u. tgi., zu beseitigen lernen .... Weil aber richtige Zahlen überall noch die sichersten Folgerungen zulassen und schon deshalb am besten zu überzeugen Pflegen, wurden in einem Anhange die Belege neuerer statistischer Forschungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/507>, abgerufen am 22.12.2024.