Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.Nichtigkeit des Titels zugestehen; und dennoch späht man umsonst in den ver¬ Damit stößt man freilich auf die landläufigen Anschauungen von der Heil¬ Nichtigkeit des Titels zugestehen; und dennoch späht man umsonst in den ver¬ Damit stößt man freilich auf die landläufigen Anschauungen von der Heil¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0506" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94947"/> <p xml:id="ID_1491" prev="#ID_1490"> Nichtigkeit des Titels zugestehen; und dennoch späht man umsonst in den ver¬<lb/> schiedenen Literaturblättcru umher nach einer Anzeige des Werkes, welches bereits<lb/> im verflossenen Jahre die Presse verließ. Das medicinische Publicum und<lb/> sonstige Gelehrte wissen freilich, daß Hygieine gleichbedeutend mit Gesundheitslehre<lb/> ist. Aber Gesundheitslehre — darüber schreibt man ja nur Noth- und HilfSbüch-<lb/> lein für das „Volk." Wie übel würde es einem promovirten Doctor der Medicin<lb/> und Chirurgie anstehen, der noch dazu vielleicht Magister der Augenheilkunde<lb/> und Geburtshilfe ist, wenn er derartige Bücher einer speciellen Prüfung würdigen<lb/> möchte? Und der Literat von Fach — was hat er sich um ein Buch zu kümmern,<lb/> welches eine ganz alltägliche Sache mit dem griechischen Wissenschaftsnamen be¬<lb/> zeichnet, sich also wahrscheinlich mir an die Fachgenossen wendet? Was mit einem<lb/> Buche von einem Professor? Und Erzieher, Schulmänner oder gar Staatsmänner-—<lb/> Jörg's „Gebote der Diätetik" geben neben ihren trefflichen populairen Lehren<lb/> freilich auch die Anregung, in jeder Primairschule einen kurzen Curs über die<lb/> Gesundheitslehre einzurichten, damit der heranwachsende Mensch wenigstens mit<lb/> einiger Klarheit über die naturgemäße Pflege und Selbstausbildung seines physio¬<lb/> logischen Lebens in's praktische Leben trete. Ob aber „höhern Ortes" von<lb/> einem so „untergeordneten" Gegenstand einmal Notiz werde genommen werden,<lb/> das ist wenigstens unter den heut bedingenden Einflüssen lehrender, wie verwal¬<lb/> tender Staatsweisheit noch eine große Frage. Oesterlen's Handbuch hält trojzdem<lb/> ebenfalls dafür, daß die Gesundheitslehre keineswegs blos eine Wissenschaft des<lb/> Arztes, sondern ein Bedürfniß der Erzieher, der praktischen Menschenfreunde, der<lb/> praktischen Staatsmänner, daß sie eben so gut eine Grunddisciplin der eigentlichen,<lb/> als der politischen Heilkunde sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_1492" next="#ID_1493"> Damit stößt man freilich auf die landläufigen Anschauungen von der Heil¬<lb/> kunde selbst, aus deren Befangenheit sogar viele Aerzte und Staatsmänner sich<lb/> nur theoretisch, doch noch keineswegs praktisch befreit haben. Weil man so gern<lb/> das eben Bestehende als das Normale voraussetzt, nennt man Abweichungen<lb/> davon Krankheiten, Ausnahmsfälle. Diese Ausnahmsfälle zurückzuführen auf die<lb/> sogenannte Norm erachten nnn die medicinischen und politischen Künstler für eine<lb/> weit höhere Aufgabe, als alles Andere. In gewisser Art haben sie ganz Recht;<lb/> ist die Gesundheit des Einzelnen oder Volkes verloren, so ist der heilende Arzt<lb/> der größte Wohlthäter; man dankt es ihm schon, wenn er nnr die Symptome<lb/> des Leidens mildert: aber freilich noch dankenswerther wäre sein Streben, wenn<lb/> es von vorn herein darauf ginge, die gewordenen Verhältnisse seiner Pflegbefohle¬<lb/> nen mit den erkannten Gesetzen der Natur in möglichste Uebereinstimmung zu<lb/> bringen, wenn er die Erhaltung der Gesundheit, die Verhütung des Leidens zu<lb/> seiner Hauptaufgabe machte, rede» welcher die Wiederherstellung dieser verlorenen<lb/> Güter nur als augenblikliche, unter besonderen Umständen gebotene, complemen-<lb/> taire Pflichterfüllung auftritt. Oesterlen hat darum vollkommen Recht, wenn er</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0506]
Nichtigkeit des Titels zugestehen; und dennoch späht man umsonst in den ver¬
schiedenen Literaturblättcru umher nach einer Anzeige des Werkes, welches bereits
im verflossenen Jahre die Presse verließ. Das medicinische Publicum und
sonstige Gelehrte wissen freilich, daß Hygieine gleichbedeutend mit Gesundheitslehre
ist. Aber Gesundheitslehre — darüber schreibt man ja nur Noth- und HilfSbüch-
lein für das „Volk." Wie übel würde es einem promovirten Doctor der Medicin
und Chirurgie anstehen, der noch dazu vielleicht Magister der Augenheilkunde
und Geburtshilfe ist, wenn er derartige Bücher einer speciellen Prüfung würdigen
möchte? Und der Literat von Fach — was hat er sich um ein Buch zu kümmern,
welches eine ganz alltägliche Sache mit dem griechischen Wissenschaftsnamen be¬
zeichnet, sich also wahrscheinlich mir an die Fachgenossen wendet? Was mit einem
Buche von einem Professor? Und Erzieher, Schulmänner oder gar Staatsmänner-—
Jörg's „Gebote der Diätetik" geben neben ihren trefflichen populairen Lehren
freilich auch die Anregung, in jeder Primairschule einen kurzen Curs über die
Gesundheitslehre einzurichten, damit der heranwachsende Mensch wenigstens mit
einiger Klarheit über die naturgemäße Pflege und Selbstausbildung seines physio¬
logischen Lebens in's praktische Leben trete. Ob aber „höhern Ortes" von
einem so „untergeordneten" Gegenstand einmal Notiz werde genommen werden,
das ist wenigstens unter den heut bedingenden Einflüssen lehrender, wie verwal¬
tender Staatsweisheit noch eine große Frage. Oesterlen's Handbuch hält trojzdem
ebenfalls dafür, daß die Gesundheitslehre keineswegs blos eine Wissenschaft des
Arztes, sondern ein Bedürfniß der Erzieher, der praktischen Menschenfreunde, der
praktischen Staatsmänner, daß sie eben so gut eine Grunddisciplin der eigentlichen,
als der politischen Heilkunde sei.
Damit stößt man freilich auf die landläufigen Anschauungen von der Heil¬
kunde selbst, aus deren Befangenheit sogar viele Aerzte und Staatsmänner sich
nur theoretisch, doch noch keineswegs praktisch befreit haben. Weil man so gern
das eben Bestehende als das Normale voraussetzt, nennt man Abweichungen
davon Krankheiten, Ausnahmsfälle. Diese Ausnahmsfälle zurückzuführen auf die
sogenannte Norm erachten nnn die medicinischen und politischen Künstler für eine
weit höhere Aufgabe, als alles Andere. In gewisser Art haben sie ganz Recht;
ist die Gesundheit des Einzelnen oder Volkes verloren, so ist der heilende Arzt
der größte Wohlthäter; man dankt es ihm schon, wenn er nnr die Symptome
des Leidens mildert: aber freilich noch dankenswerther wäre sein Streben, wenn
es von vorn herein darauf ginge, die gewordenen Verhältnisse seiner Pflegbefohle¬
nen mit den erkannten Gesetzen der Natur in möglichste Uebereinstimmung zu
bringen, wenn er die Erhaltung der Gesundheit, die Verhütung des Leidens zu
seiner Hauptaufgabe machte, rede» welcher die Wiederherstellung dieser verlorenen
Güter nur als augenblikliche, unter besonderen Umständen gebotene, complemen-
taire Pflichterfüllung auftritt. Oesterlen hat darum vollkommen Recht, wenn er
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