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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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anläge der Handlung wie der Charaktere entsprechen müsse, ist dahin ausgedehnt
worden, daß ans jener Naturanlage mit Nothwendigkeit die weitere Folge her¬
geleitet wurde. Aber der tragische wie der poetische Eindruck überhaupt erfordert
das Eintreten eines incommensurabeln Moments, das wir zwar in seiner allge¬
meinen Berechtigung, aber nicht in seiner einzelnen Erscheinung analysiren können.
Dieses Moment, welches Goethe mit dem Ausdruck des Dämonischen bezeichnete,
ist es offenbar, was Ulrici Romantik in Shakespeare nennt. Der Ausdruck ist
aber nicht treffend, da es uns bei jedem bedeutenden Dichter wieder begegnet,
mag er der antiken Welt, dem Mittelalter, oder der modernen Zeit angehören.
Die Nothwendigkeit dieses Moments für die Poesie haben die nüchternsten Kri¬
tiker aller Zeiten anerkannt, z. B. Bodmer und Breitingcr, als sie das Wunder¬
bare neben dem Moralischen für das Haupterforderniß der Poesie erklärte", wenn
sie auch dieses Wunderbare sehr prosaisch und gedankenlos in der alten, Götter-
maschiuerie- suchten. Das ist eben die schwerste Aufgabe des Kunstwerks : wir
müssen das Schicksal vollkommen begreifen und anch in seiner Nothwendigkeit
vvrausempfiudeu, und doch muß sein Eintreten uns erschüttern; es muß das
Gefühl einer höhern Macht in uns aufgehen, vor der wir uus beugen, obgleich
wir sie vollständig begreifen. Es kommt nur darauf an, und das ist der Haupt¬
punkt, den wir immer hervorheben müssen, daß dieses Wunderbare, Dämonische,
oder wie wir sonst es nennen wollen, in richtigem Verhältniß zu dem Gefühl
steht, welches der moralische Inhalt in uns erweckt hat; eben so wie es bei den
Gestatte", die uus der Dichter wie jeder andere Künstler vorführt, nur darauf
ankommt, daß sie lebensfähig si"d, nicht daß sie der zufälligen -sogenannten Wirk¬
lichkeit angehören.

Die vollkommene Uebereinstimmung dieser beiden Momente der Poesie, des
Wunderbaren und des Moralischen, des Ideale" und des Realen, des Dämonischen
und des Irdischen, ist eS, was wir als das charakteristische Keniizeichen der protestan¬
tischen Poesie begreifen.. Die kritische Analyse hat also nicht darauf aus^ugebn, alle
einzelnen Momente eines dichterischen Werks in allgemeine Kategorien einzuzwängen,
wie es z. B. Rölscher mit einem Dichter, bei dem diese Methode am wenigsten
anwendbar ist, mit Aristophanes, gethan hat, sondern darauf, die Uebereinstimmung
zwischen der realen Basis, auf der es beruht, und dem Geist, der darin weht,
nachzuweisen. Shakespeare hat sehr häufig Scenen, deren Nothwendigkeit für
den pragmatischen Zusammenhang in keiner Weise zu begreife" ist, die aber der
idealen Stimmung einen wesentlichen Ausdruck gebe". Wir erinnern z. B. an
5>le Begrabuißsceue der Ophelia, das Gespräch mit dem Todtengräber mit ein¬
geschlossen. Diese Scene in einen vernünftige" Zusammenhang mit dem Lauf
der Begebenheiten zu setzen, würde eine schwierige Aufgabe sein; allein der Dichter
beabsichtigt damit, uns das unheimliche Gefühl von der Nichtigkeit alles Jidischen,
das der eigentliche Inhalt dieses Gedichts ist, lebhafter einzuschärfen, und da ist


Grenzboten. IU. -I8ö2.

anläge der Handlung wie der Charaktere entsprechen müsse, ist dahin ausgedehnt
worden, daß ans jener Naturanlage mit Nothwendigkeit die weitere Folge her¬
geleitet wurde. Aber der tragische wie der poetische Eindruck überhaupt erfordert
das Eintreten eines incommensurabeln Moments, das wir zwar in seiner allge¬
meinen Berechtigung, aber nicht in seiner einzelnen Erscheinung analysiren können.
Dieses Moment, welches Goethe mit dem Ausdruck des Dämonischen bezeichnete,
ist es offenbar, was Ulrici Romantik in Shakespeare nennt. Der Ausdruck ist
aber nicht treffend, da es uns bei jedem bedeutenden Dichter wieder begegnet,
mag er der antiken Welt, dem Mittelalter, oder der modernen Zeit angehören.
Die Nothwendigkeit dieses Moments für die Poesie haben die nüchternsten Kri¬
tiker aller Zeiten anerkannt, z. B. Bodmer und Breitingcr, als sie das Wunder¬
bare neben dem Moralischen für das Haupterforderniß der Poesie erklärte», wenn
sie auch dieses Wunderbare sehr prosaisch und gedankenlos in der alten, Götter-
maschiuerie- suchten. Das ist eben die schwerste Aufgabe des Kunstwerks : wir
müssen das Schicksal vollkommen begreifen und anch in seiner Nothwendigkeit
vvrausempfiudeu, und doch muß sein Eintreten uns erschüttern; es muß das
Gefühl einer höhern Macht in uns aufgehen, vor der wir uus beugen, obgleich
wir sie vollständig begreifen. Es kommt nur darauf an, und das ist der Haupt¬
punkt, den wir immer hervorheben müssen, daß dieses Wunderbare, Dämonische,
oder wie wir sonst es nennen wollen, in richtigem Verhältniß zu dem Gefühl
steht, welches der moralische Inhalt in uns erweckt hat; eben so wie es bei den
Gestatte», die uus der Dichter wie jeder andere Künstler vorführt, nur darauf
ankommt, daß sie lebensfähig si»d, nicht daß sie der zufälligen -sogenannten Wirk¬
lichkeit angehören.

Die vollkommene Uebereinstimmung dieser beiden Momente der Poesie, des
Wunderbaren und des Moralischen, des Ideale» und des Realen, des Dämonischen
und des Irdischen, ist eS, was wir als das charakteristische Keniizeichen der protestan¬
tischen Poesie begreifen.. Die kritische Analyse hat also nicht darauf aus^ugebn, alle
einzelnen Momente eines dichterischen Werks in allgemeine Kategorien einzuzwängen,
wie es z. B. Rölscher mit einem Dichter, bei dem diese Methode am wenigsten
anwendbar ist, mit Aristophanes, gethan hat, sondern darauf, die Uebereinstimmung
zwischen der realen Basis, auf der es beruht, und dem Geist, der darin weht,
nachzuweisen. Shakespeare hat sehr häufig Scenen, deren Nothwendigkeit für
den pragmatischen Zusammenhang in keiner Weise zu begreife» ist, die aber der
idealen Stimmung einen wesentlichen Ausdruck gebe». Wir erinnern z. B. an
5>le Begrabuißsceue der Ophelia, das Gespräch mit dem Todtengräber mit ein¬
geschlossen. Diese Scene in einen vernünftige» Zusammenhang mit dem Lauf
der Begebenheiten zu setzen, würde eine schwierige Aufgabe sein; allein der Dichter
beabsichtigt damit, uns das unheimliche Gefühl von der Nichtigkeit alles Jidischen,
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[0421] anläge der Handlung wie der Charaktere entsprechen müsse, ist dahin ausgedehnt worden, daß ans jener Naturanlage mit Nothwendigkeit die weitere Folge her¬ geleitet wurde. Aber der tragische wie der poetische Eindruck überhaupt erfordert das Eintreten eines incommensurabeln Moments, das wir zwar in seiner allge¬ meinen Berechtigung, aber nicht in seiner einzelnen Erscheinung analysiren können. Dieses Moment, welches Goethe mit dem Ausdruck des Dämonischen bezeichnete, ist es offenbar, was Ulrici Romantik in Shakespeare nennt. Der Ausdruck ist aber nicht treffend, da es uns bei jedem bedeutenden Dichter wieder begegnet, mag er der antiken Welt, dem Mittelalter, oder der modernen Zeit angehören. Die Nothwendigkeit dieses Moments für die Poesie haben die nüchternsten Kri¬ tiker aller Zeiten anerkannt, z. B. Bodmer und Breitingcr, als sie das Wunder¬ bare neben dem Moralischen für das Haupterforderniß der Poesie erklärte», wenn sie auch dieses Wunderbare sehr prosaisch und gedankenlos in der alten, Götter- maschiuerie- suchten. Das ist eben die schwerste Aufgabe des Kunstwerks : wir müssen das Schicksal vollkommen begreifen und anch in seiner Nothwendigkeit vvrausempfiudeu, und doch muß sein Eintreten uns erschüttern; es muß das Gefühl einer höhern Macht in uns aufgehen, vor der wir uus beugen, obgleich wir sie vollständig begreifen. Es kommt nur darauf an, und das ist der Haupt¬ punkt, den wir immer hervorheben müssen, daß dieses Wunderbare, Dämonische, oder wie wir sonst es nennen wollen, in richtigem Verhältniß zu dem Gefühl steht, welches der moralische Inhalt in uns erweckt hat; eben so wie es bei den Gestatte», die uus der Dichter wie jeder andere Künstler vorführt, nur darauf ankommt, daß sie lebensfähig si»d, nicht daß sie der zufälligen -sogenannten Wirk¬ lichkeit angehören. Die vollkommene Uebereinstimmung dieser beiden Momente der Poesie, des Wunderbaren und des Moralischen, des Ideale» und des Realen, des Dämonischen und des Irdischen, ist eS, was wir als das charakteristische Keniizeichen der protestan¬ tischen Poesie begreifen.. Die kritische Analyse hat also nicht darauf aus^ugebn, alle einzelnen Momente eines dichterischen Werks in allgemeine Kategorien einzuzwängen, wie es z. B. Rölscher mit einem Dichter, bei dem diese Methode am wenigsten anwendbar ist, mit Aristophanes, gethan hat, sondern darauf, die Uebereinstimmung zwischen der realen Basis, auf der es beruht, und dem Geist, der darin weht, nachzuweisen. Shakespeare hat sehr häufig Scenen, deren Nothwendigkeit für den pragmatischen Zusammenhang in keiner Weise zu begreife» ist, die aber der idealen Stimmung einen wesentlichen Ausdruck gebe». Wir erinnern z. B. an 5>le Begrabuißsceue der Ophelia, das Gespräch mit dem Todtengräber mit ein¬ geschlossen. Diese Scene in einen vernünftige» Zusammenhang mit dem Lauf der Begebenheiten zu setzen, würde eine schwierige Aufgabe sein; allein der Dichter beabsichtigt damit, uns das unheimliche Gefühl von der Nichtigkeit alles Jidischen, das der eigentliche Inhalt dieses Gedichts ist, lebhafter einzuschärfen, und da ist Grenzboten. IU. -I8ö2.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/421>, abgerufen am 22.12.2024.