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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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großen Kunst/ mit der Shakespeare seine Personen individualisirt, ist man über¬
haupt nnr zu geneigt, die Frende an der Darstellung mit der Freude am Gegen¬
stand zu verwechseln. Aber Shakespeare's Größe besteht unter Anderem auch darin,
daß bei ihm diese Verwechselung niemals stattfindet, weil er niemals den gefunden
Menschenverstand verliert. Er läßt sich von seinem. Interesse für die starke
Willenskraft eines boshaften und für den unverwüstlichen Humor eines gemeinen
Charakters niemals hinreißen, die Stimme seines - Gewissens zu überhören.
Falstaff wird zum Schluß des Stücks mit einem höchst verdienten und für das
Verständniß der ganzen Handlung durchaus nothwendigen Fußtritt abgefertigt, nud
wenn der Hanswurst sich auch über diesen Fußtritt zu trösten weiß, so betrügt
er damit doch nicht die Empfindung des Dichters. Wer aber auf die Idee kommen
kann, in der Figur dieses trotz seiner, humoristischen Anlagen dnrch und durch
verächtlichen Lumps habe sich Shakespeare selber ironisiren wollen, der zeigt sich
doch wol damit als nicht besonders befähigt, das eigentliche Wesen der Shake-
speare'schen Poesie zu begreifen.

Wir legen' ans diesen an sich geringfügigen Umstand darum Gewicht, weil
er die entscheidende Frage berührt. Ulrici ist darüber verwundert, daß bei dem
Sturm, der sich seit den letzten dreißiger Jahren von Seiten der Philosophen
und Historiker gegen die Romantik erhob, Shakespeare von der Prvscriptionsliste
ausgeschlossen sei, da man ihn doch früher für den Hauptdichter der Romantik
gehalten habe. Er sucht einige Gründe anzuführen, die aber nicht erschöpfend
sind; den naheliegenden und vollkommen ausreichenden hat er übersehen. Der
Ausdruck Romantik war damals ein Stichwort, mit dem man nach Belieben um-
ging. Die Anhänger der Romantik bezeichneten damit die Poesie überhaupt,
die Gegner die Verschrobenheit. Nun ist es unzweifelhaft und wird von Ulrici
ganz richtig hervorgehoben, daß man einen großen Theil der Shakespeare'schen
Stoffe als romantisch, d. h. hier als unverarbeitet, als irrationell bezeichnen kaun,
und daß ein großer Theil deS Zaubers, den Shakespeare ausübt, in seinem
innigen Verhältniß zu deu mittelalterlichen Zuständen gesucht werden muß, welche
dreiste Farben und Striche mehr begünstigtes als die Culturverhältnisse der
neuen Zeit. ' Eben so klar ist xs aber auch, daß er diese Stosse ganz entschieden
im Geist der modernen Gesinnung verarbeitet hat, die keineswegs so arm an
Poesie ist, als man uns einrede" möchte; denn wenn man ihn in Beziehung
auf seine Kunstform, d. h. im Gegensatz gegen Racine und Boileau, romantisch
nennt, so meint man damit etwas ganz Anderes, man meint die naturwüchsige
Form des germanischen Theaters, die eben so wenig die Ehre verdient, im gewöhn¬
lichen Sinn dieses Worts romantisch genannt zu werden, als die eigentlich germanische
Baukunst, da beide aus der Natur des Landes und des Volks auf eine ganz
rationelle Weise erwachsen waren. Ob man bei diesen Formen des germanischen
Theaters stehen bleiben, oder ob man nach dem Vorbild der Franzosen wieder ans


großen Kunst/ mit der Shakespeare seine Personen individualisirt, ist man über¬
haupt nnr zu geneigt, die Frende an der Darstellung mit der Freude am Gegen¬
stand zu verwechseln. Aber Shakespeare's Größe besteht unter Anderem auch darin,
daß bei ihm diese Verwechselung niemals stattfindet, weil er niemals den gefunden
Menschenverstand verliert. Er läßt sich von seinem. Interesse für die starke
Willenskraft eines boshaften und für den unverwüstlichen Humor eines gemeinen
Charakters niemals hinreißen, die Stimme seines - Gewissens zu überhören.
Falstaff wird zum Schluß des Stücks mit einem höchst verdienten und für das
Verständniß der ganzen Handlung durchaus nothwendigen Fußtritt abgefertigt, nud
wenn der Hanswurst sich auch über diesen Fußtritt zu trösten weiß, so betrügt
er damit doch nicht die Empfindung des Dichters. Wer aber auf die Idee kommen
kann, in der Figur dieses trotz seiner, humoristischen Anlagen dnrch und durch
verächtlichen Lumps habe sich Shakespeare selber ironisiren wollen, der zeigt sich
doch wol damit als nicht besonders befähigt, das eigentliche Wesen der Shake-
speare'schen Poesie zu begreifen.

Wir legen' ans diesen an sich geringfügigen Umstand darum Gewicht, weil
er die entscheidende Frage berührt. Ulrici ist darüber verwundert, daß bei dem
Sturm, der sich seit den letzten dreißiger Jahren von Seiten der Philosophen
und Historiker gegen die Romantik erhob, Shakespeare von der Prvscriptionsliste
ausgeschlossen sei, da man ihn doch früher für den Hauptdichter der Romantik
gehalten habe. Er sucht einige Gründe anzuführen, die aber nicht erschöpfend
sind; den naheliegenden und vollkommen ausreichenden hat er übersehen. Der
Ausdruck Romantik war damals ein Stichwort, mit dem man nach Belieben um-
ging. Die Anhänger der Romantik bezeichneten damit die Poesie überhaupt,
die Gegner die Verschrobenheit. Nun ist es unzweifelhaft und wird von Ulrici
ganz richtig hervorgehoben, daß man einen großen Theil der Shakespeare'schen
Stoffe als romantisch, d. h. hier als unverarbeitet, als irrationell bezeichnen kaun,
und daß ein großer Theil deS Zaubers, den Shakespeare ausübt, in seinem
innigen Verhältniß zu deu mittelalterlichen Zuständen gesucht werden muß, welche
dreiste Farben und Striche mehr begünstigtes als die Culturverhältnisse der
neuen Zeit. ' Eben so klar ist xs aber auch, daß er diese Stosse ganz entschieden
im Geist der modernen Gesinnung verarbeitet hat, die keineswegs so arm an
Poesie ist, als man uns einrede» möchte; denn wenn man ihn in Beziehung
auf seine Kunstform, d. h. im Gegensatz gegen Racine und Boileau, romantisch
nennt, so meint man damit etwas ganz Anderes, man meint die naturwüchsige
Form des germanischen Theaters, die eben so wenig die Ehre verdient, im gewöhn¬
lichen Sinn dieses Worts romantisch genannt zu werden, als die eigentlich germanische
Baukunst, da beide aus der Natur des Landes und des Volks auf eine ganz
rationelle Weise erwachsen waren. Ob man bei diesen Formen des germanischen
Theaters stehen bleiben, oder ob man nach dem Vorbild der Franzosen wieder ans


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[0414] großen Kunst/ mit der Shakespeare seine Personen individualisirt, ist man über¬ haupt nnr zu geneigt, die Frende an der Darstellung mit der Freude am Gegen¬ stand zu verwechseln. Aber Shakespeare's Größe besteht unter Anderem auch darin, daß bei ihm diese Verwechselung niemals stattfindet, weil er niemals den gefunden Menschenverstand verliert. Er läßt sich von seinem. Interesse für die starke Willenskraft eines boshaften und für den unverwüstlichen Humor eines gemeinen Charakters niemals hinreißen, die Stimme seines - Gewissens zu überhören. Falstaff wird zum Schluß des Stücks mit einem höchst verdienten und für das Verständniß der ganzen Handlung durchaus nothwendigen Fußtritt abgefertigt, nud wenn der Hanswurst sich auch über diesen Fußtritt zu trösten weiß, so betrügt er damit doch nicht die Empfindung des Dichters. Wer aber auf die Idee kommen kann, in der Figur dieses trotz seiner, humoristischen Anlagen dnrch und durch verächtlichen Lumps habe sich Shakespeare selber ironisiren wollen, der zeigt sich doch wol damit als nicht besonders befähigt, das eigentliche Wesen der Shake- speare'schen Poesie zu begreifen. Wir legen' ans diesen an sich geringfügigen Umstand darum Gewicht, weil er die entscheidende Frage berührt. Ulrici ist darüber verwundert, daß bei dem Sturm, der sich seit den letzten dreißiger Jahren von Seiten der Philosophen und Historiker gegen die Romantik erhob, Shakespeare von der Prvscriptionsliste ausgeschlossen sei, da man ihn doch früher für den Hauptdichter der Romantik gehalten habe. Er sucht einige Gründe anzuführen, die aber nicht erschöpfend sind; den naheliegenden und vollkommen ausreichenden hat er übersehen. Der Ausdruck Romantik war damals ein Stichwort, mit dem man nach Belieben um- ging. Die Anhänger der Romantik bezeichneten damit die Poesie überhaupt, die Gegner die Verschrobenheit. Nun ist es unzweifelhaft und wird von Ulrici ganz richtig hervorgehoben, daß man einen großen Theil der Shakespeare'schen Stoffe als romantisch, d. h. hier als unverarbeitet, als irrationell bezeichnen kaun, und daß ein großer Theil deS Zaubers, den Shakespeare ausübt, in seinem innigen Verhältniß zu deu mittelalterlichen Zuständen gesucht werden muß, welche dreiste Farben und Striche mehr begünstigtes als die Culturverhältnisse der neuen Zeit. ' Eben so klar ist xs aber auch, daß er diese Stosse ganz entschieden im Geist der modernen Gesinnung verarbeitet hat, die keineswegs so arm an Poesie ist, als man uns einrede» möchte; denn wenn man ihn in Beziehung auf seine Kunstform, d. h. im Gegensatz gegen Racine und Boileau, romantisch nennt, so meint man damit etwas ganz Anderes, man meint die naturwüchsige Form des germanischen Theaters, die eben so wenig die Ehre verdient, im gewöhn¬ lichen Sinn dieses Worts romantisch genannt zu werden, als die eigentlich germanische Baukunst, da beide aus der Natur des Landes und des Volks auf eine ganz rationelle Weise erwachsen waren. Ob man bei diesen Formen des germanischen Theaters stehen bleiben, oder ob man nach dem Vorbild der Franzosen wieder ans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/414>, abgerufen am 22.12.2024.