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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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und leidenschaftlichen Gemüthern gegen das steife Puritauerthum der altenglischen
Tradition eintrat, ist vielleicht durch nichts so gestärkt worden, als durch die Härte
der herrschenden Gesellschaft gegen die poetischen Kühnheiten Lord Byron'S. In¬
dem man sich äußerlich gezwungen sah, zu verdammen, was man doch im Stillen
lieben und bewundern mußte, war es zu natürlich, daß man jene althergebrachten
Sitten, die sich als unvereinbar mit dem Genius darstellten, einer strengeren
Prüfung unterwarf, und dabei zu Resultaten kam, die weit über die Kühnheiten
Byron's hinausgingen. Die Empörung Byron's gegen, den Geist seines Vater¬
landes war nur individueller Natur. Durch die Ausnahmen, die er zu Gunsten
seiner melancholischen und frivolen Helden machte, bestätigte er nur die Regel,
der sie zum Opfer fielen. Bei Shelley dagegen ist der Zusammenhang mit der
Tradition abgeschnitten. Nicht allein sein Glaube, soudern auch seine ganze Dent-
und Empfindungsweise ist etwas wesentlich Neues. Seine Empörer gegen das
absolute Wesen zittern nicht mehr vor dem Gott des Himmels und der Erde,
sie haben ihren Geist völlig frei gemacht und bewegen sich unabhängig in ihrem
eigenen wüsten Reich, auf das der Exorcismus des hergebrachten Glaubens keine
Gewalt mehr ausübt.

Wenn die jüngeren Dichter seiner Schule dem Anschein nach wieder eine Ver¬
mittelung suchen, so wird dadurch der Bruch eigentlich nur noch deutlicher und
tiefer. Sie ziehen sich vollständig in die innere Welt des Gedankens zurück,
und die äußeren Dinge wie die sittlichen Ideen verfallen der zersetzenden Kraft
ihrer Abstraction. Die Dichter, die sich für ihre Jnstincte und Empfindungen
eine ganz neue Sprache geschaffen haben, beschränken sich aus diese innere Welt
der Seele, der äußerliche Maßstab der Thatsachen und ^der öffentlichen Meinung
ist für sie nicht vorhanden.

Wir müssen unsere Aufmerksamkeit um so schärfer darauf richten, da diese
Gleichgiltigkeit gegen die gewöhnlichen Vorstellungen ihrer Popularität keinen Ein¬
trag thut. Das Hauptwerk Bailey's, eines der bedeutendsten unter diesen Dich¬
tern, "Festus", (1839) hat in wenig Jahren drei Auflagen erlebt, und die ge-
sammte Kritik, auch wenn sie angrisssweise zu Werke ging, hat sich mit der größten
Anerkennung darüber ausgesprochen, und doch mußte dieses dramatische Gedicht
sowol seinem Inhalt als seiner Form nach die gewöhnlichen Vorstellungen der
Engländer auf's tiefste'verletzen. Sein Grundgedanke ist die relative Rechtfer¬
tigung des Bösen als ein Mittel zum Guten. Die Charakteristik seiner Figuren,
die meistens allgemeine Symbole sind, widerspricht allen Voraussetzungen^ die man
sonst von diesen mythischen Gestalten hegt; seine Komposition ist eine unausgesetzte
Empörung gegen alle Regeln der Kunst, und seine Sprache selbst sür uns Deutsche,
die wir doch an Mystik und Abstraction gewöhnt sein sollten, ziemlich unbequem.

"Festus" ist ein anderer Name für Faust, und schon der Prolog ist eine
Reminiscenz. Gott der Herr ertheilt Lucifer die Vollmacht, Festus zu besuchen,


und leidenschaftlichen Gemüthern gegen das steife Puritauerthum der altenglischen
Tradition eintrat, ist vielleicht durch nichts so gestärkt worden, als durch die Härte
der herrschenden Gesellschaft gegen die poetischen Kühnheiten Lord Byron'S. In¬
dem man sich äußerlich gezwungen sah, zu verdammen, was man doch im Stillen
lieben und bewundern mußte, war es zu natürlich, daß man jene althergebrachten
Sitten, die sich als unvereinbar mit dem Genius darstellten, einer strengeren
Prüfung unterwarf, und dabei zu Resultaten kam, die weit über die Kühnheiten
Byron's hinausgingen. Die Empörung Byron's gegen, den Geist seines Vater¬
landes war nur individueller Natur. Durch die Ausnahmen, die er zu Gunsten
seiner melancholischen und frivolen Helden machte, bestätigte er nur die Regel,
der sie zum Opfer fielen. Bei Shelley dagegen ist der Zusammenhang mit der
Tradition abgeschnitten. Nicht allein sein Glaube, soudern auch seine ganze Dent-
und Empfindungsweise ist etwas wesentlich Neues. Seine Empörer gegen das
absolute Wesen zittern nicht mehr vor dem Gott des Himmels und der Erde,
sie haben ihren Geist völlig frei gemacht und bewegen sich unabhängig in ihrem
eigenen wüsten Reich, auf das der Exorcismus des hergebrachten Glaubens keine
Gewalt mehr ausübt.

Wenn die jüngeren Dichter seiner Schule dem Anschein nach wieder eine Ver¬
mittelung suchen, so wird dadurch der Bruch eigentlich nur noch deutlicher und
tiefer. Sie ziehen sich vollständig in die innere Welt des Gedankens zurück,
und die äußeren Dinge wie die sittlichen Ideen verfallen der zersetzenden Kraft
ihrer Abstraction. Die Dichter, die sich für ihre Jnstincte und Empfindungen
eine ganz neue Sprache geschaffen haben, beschränken sich aus diese innere Welt
der Seele, der äußerliche Maßstab der Thatsachen und ^der öffentlichen Meinung
ist für sie nicht vorhanden.

Wir müssen unsere Aufmerksamkeit um so schärfer darauf richten, da diese
Gleichgiltigkeit gegen die gewöhnlichen Vorstellungen ihrer Popularität keinen Ein¬
trag thut. Das Hauptwerk Bailey's, eines der bedeutendsten unter diesen Dich¬
tern, „Festus", (1839) hat in wenig Jahren drei Auflagen erlebt, und die ge-
sammte Kritik, auch wenn sie angrisssweise zu Werke ging, hat sich mit der größten
Anerkennung darüber ausgesprochen, und doch mußte dieses dramatische Gedicht
sowol seinem Inhalt als seiner Form nach die gewöhnlichen Vorstellungen der
Engländer auf's tiefste'verletzen. Sein Grundgedanke ist die relative Rechtfer¬
tigung des Bösen als ein Mittel zum Guten. Die Charakteristik seiner Figuren,
die meistens allgemeine Symbole sind, widerspricht allen Voraussetzungen^ die man
sonst von diesen mythischen Gestalten hegt; seine Komposition ist eine unausgesetzte
Empörung gegen alle Regeln der Kunst, und seine Sprache selbst sür uns Deutsche,
die wir doch an Mystik und Abstraction gewöhnt sein sollten, ziemlich unbequem.

„Festus" ist ein anderer Name für Faust, und schon der Prolog ist eine
Reminiscenz. Gott der Herr ertheilt Lucifer die Vollmacht, Festus zu besuchen,


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[0396] und leidenschaftlichen Gemüthern gegen das steife Puritauerthum der altenglischen Tradition eintrat, ist vielleicht durch nichts so gestärkt worden, als durch die Härte der herrschenden Gesellschaft gegen die poetischen Kühnheiten Lord Byron'S. In¬ dem man sich äußerlich gezwungen sah, zu verdammen, was man doch im Stillen lieben und bewundern mußte, war es zu natürlich, daß man jene althergebrachten Sitten, die sich als unvereinbar mit dem Genius darstellten, einer strengeren Prüfung unterwarf, und dabei zu Resultaten kam, die weit über die Kühnheiten Byron's hinausgingen. Die Empörung Byron's gegen, den Geist seines Vater¬ landes war nur individueller Natur. Durch die Ausnahmen, die er zu Gunsten seiner melancholischen und frivolen Helden machte, bestätigte er nur die Regel, der sie zum Opfer fielen. Bei Shelley dagegen ist der Zusammenhang mit der Tradition abgeschnitten. Nicht allein sein Glaube, soudern auch seine ganze Dent- und Empfindungsweise ist etwas wesentlich Neues. Seine Empörer gegen das absolute Wesen zittern nicht mehr vor dem Gott des Himmels und der Erde, sie haben ihren Geist völlig frei gemacht und bewegen sich unabhängig in ihrem eigenen wüsten Reich, auf das der Exorcismus des hergebrachten Glaubens keine Gewalt mehr ausübt. Wenn die jüngeren Dichter seiner Schule dem Anschein nach wieder eine Ver¬ mittelung suchen, so wird dadurch der Bruch eigentlich nur noch deutlicher und tiefer. Sie ziehen sich vollständig in die innere Welt des Gedankens zurück, und die äußeren Dinge wie die sittlichen Ideen verfallen der zersetzenden Kraft ihrer Abstraction. Die Dichter, die sich für ihre Jnstincte und Empfindungen eine ganz neue Sprache geschaffen haben, beschränken sich aus diese innere Welt der Seele, der äußerliche Maßstab der Thatsachen und ^der öffentlichen Meinung ist für sie nicht vorhanden. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit um so schärfer darauf richten, da diese Gleichgiltigkeit gegen die gewöhnlichen Vorstellungen ihrer Popularität keinen Ein¬ trag thut. Das Hauptwerk Bailey's, eines der bedeutendsten unter diesen Dich¬ tern, „Festus", (1839) hat in wenig Jahren drei Auflagen erlebt, und die ge- sammte Kritik, auch wenn sie angrisssweise zu Werke ging, hat sich mit der größten Anerkennung darüber ausgesprochen, und doch mußte dieses dramatische Gedicht sowol seinem Inhalt als seiner Form nach die gewöhnlichen Vorstellungen der Engländer auf's tiefste'verletzen. Sein Grundgedanke ist die relative Rechtfer¬ tigung des Bösen als ein Mittel zum Guten. Die Charakteristik seiner Figuren, die meistens allgemeine Symbole sind, widerspricht allen Voraussetzungen^ die man sonst von diesen mythischen Gestalten hegt; seine Komposition ist eine unausgesetzte Empörung gegen alle Regeln der Kunst, und seine Sprache selbst sür uns Deutsche, die wir doch an Mystik und Abstraction gewöhnt sein sollten, ziemlich unbequem. „Festus" ist ein anderer Name für Faust, und schon der Prolog ist eine Reminiscenz. Gott der Herr ertheilt Lucifer die Vollmacht, Festus zu besuchen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/396>, abgerufen am 30.12.2024.