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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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untergegangenen Herzens noch möglichst zu verdunkeln und zu verdächtigen. Ein
anderes Opfer ist Lilli, die Goethe's Liebeslieder so unvergleichlich schildern.
Er gab sie auch um der nichtigsten Gründe willen auf, aber sie hatte eine straffere
Herzensfaser als die arme Friederike. Der lebhaftem Natur war offenbar der
scharfblickende Instinkt der Weiblichkeit eigen, Lilli mußte eine Ahnung von Friede-
rikens, Schicksal haben, deshalb griff sie zur Maske muthwilliger Coquetterie, um
sie als Schild zu gebrauchen gegen ein ähnliches. Sie hat ihre Rolle so täu¬
schend gespielt, daß ihr die Schuld beigemessen wird, die Goethe unfehlbar be¬
gangen haben würde, wenn sie ihm ihr Herz ohne Rückhalt preisgegeben hätte.
Ein neuer Beitrag zur Goetheliteratur, Dünjzer's Frauenbilder aus Goethe's Ju¬
gend, spricht ausführlich über Lilli und beweist durch verdienstliche Nachforschungen
über ihr späteres Leben, daß sie keineswegs so leichtsinnig, hartherzig und coquett
gewesen sein kann, wie Düntzer selbst es darstellen möchte, um Goethe zu recht¬
fertigen. Lilli ist eine verständige Hausfrau, eine liebevolle Mutter und eine
tadellose Gattin geworden, obwol sie offenbar nur aus Resignation sich vermählt
und ihre verschwiegene Neigung dem liebenswürdigsten Manne und größten Dich¬
ter bewahrt hat. Anna Münch und Maximiliane de la Noche, die holde Tochter
der Schriftstellerin Sophie de la Roche, haben nach Dünjzer's Bericht ebenfalls
Goethe's Herz angeregt, aber er hat es in beiden Fällen wieder sehr schnell zu
beschwichtigen gewußt, obwol kein erhebliches Hinderniß ihm entgegenstand. In
Wahrheit und Dichtung gesteht Goethe sogar, daß seine Neigung für Maximiliane
eine bedenkliche Steigerung erfahren, als diese in Frankfurt in anerkannt un¬
glücklicher Ehe mit Brentano gelebt habe; das Verhältniß sei ihm sehr peinvoll
geworden, bis er sich durch seine eigenthümliche Heilmethode davon befreit habe;
nämlich es zum Gegenstand einer Production zu machen. Im Werther sei die
Situation dargestellt, zu Lotte' habe jedoch mehr als ein Modell seiner Phantasie
vorgeschwebt. Bettine von Arnim, die Tochter von Maximiliane Brentano, scheint
ihre Liebe zu Goethe von der Mutter ererbt zu haben.

In allen seinen Beziehungen zur Frauenwelt, zeigt sich bei Goethe eine auf¬
fallende Scheu, sich zu fesseln; im Bewußtsein seiner höhern Begabung, schien er
sich gewissermaßen wie ein Halbgott für wunderbare Thaten und Erlebnisse frei
erhalten zu wollen. Aus Wahrheit und Dichtung geht hervor, wie abergläubisch
er die Verwünschung jener leidenschaftlichen Lucinde aufrecht erhielt, die seine
Lippen gegen jede Berührung mit einem Feuerkuß versiegelt hatte. Lauge ließ
er sich wirklich dadurch zurückhalten und glaubte an das Unheil, welches sein
Mund anrichten würde, bis er es bei der armen Friederike vergaß, jedoch auch
es gleich in Erfüllung gehen sah; denn das sorglose Glück des lieblichen Mädchens
vernichtet zu haben, konnte er sich nicht verhehlen. Er war selbst zu sehr Herzens¬
kenner, um sich darüber zu täuschen.

Goethe's küßte Besonnenheit, die ihn immer wieder, trotz aller Reizempfäng-


untergegangenen Herzens noch möglichst zu verdunkeln und zu verdächtigen. Ein
anderes Opfer ist Lilli, die Goethe's Liebeslieder so unvergleichlich schildern.
Er gab sie auch um der nichtigsten Gründe willen auf, aber sie hatte eine straffere
Herzensfaser als die arme Friederike. Der lebhaftem Natur war offenbar der
scharfblickende Instinkt der Weiblichkeit eigen, Lilli mußte eine Ahnung von Friede-
rikens, Schicksal haben, deshalb griff sie zur Maske muthwilliger Coquetterie, um
sie als Schild zu gebrauchen gegen ein ähnliches. Sie hat ihre Rolle so täu¬
schend gespielt, daß ihr die Schuld beigemessen wird, die Goethe unfehlbar be¬
gangen haben würde, wenn sie ihm ihr Herz ohne Rückhalt preisgegeben hätte.
Ein neuer Beitrag zur Goetheliteratur, Dünjzer's Frauenbilder aus Goethe's Ju¬
gend, spricht ausführlich über Lilli und beweist durch verdienstliche Nachforschungen
über ihr späteres Leben, daß sie keineswegs so leichtsinnig, hartherzig und coquett
gewesen sein kann, wie Düntzer selbst es darstellen möchte, um Goethe zu recht¬
fertigen. Lilli ist eine verständige Hausfrau, eine liebevolle Mutter und eine
tadellose Gattin geworden, obwol sie offenbar nur aus Resignation sich vermählt
und ihre verschwiegene Neigung dem liebenswürdigsten Manne und größten Dich¬
ter bewahrt hat. Anna Münch und Maximiliane de la Noche, die holde Tochter
der Schriftstellerin Sophie de la Roche, haben nach Dünjzer's Bericht ebenfalls
Goethe's Herz angeregt, aber er hat es in beiden Fällen wieder sehr schnell zu
beschwichtigen gewußt, obwol kein erhebliches Hinderniß ihm entgegenstand. In
Wahrheit und Dichtung gesteht Goethe sogar, daß seine Neigung für Maximiliane
eine bedenkliche Steigerung erfahren, als diese in Frankfurt in anerkannt un¬
glücklicher Ehe mit Brentano gelebt habe; das Verhältniß sei ihm sehr peinvoll
geworden, bis er sich durch seine eigenthümliche Heilmethode davon befreit habe;
nämlich es zum Gegenstand einer Production zu machen. Im Werther sei die
Situation dargestellt, zu Lotte' habe jedoch mehr als ein Modell seiner Phantasie
vorgeschwebt. Bettine von Arnim, die Tochter von Maximiliane Brentano, scheint
ihre Liebe zu Goethe von der Mutter ererbt zu haben.

In allen seinen Beziehungen zur Frauenwelt, zeigt sich bei Goethe eine auf¬
fallende Scheu, sich zu fesseln; im Bewußtsein seiner höhern Begabung, schien er
sich gewissermaßen wie ein Halbgott für wunderbare Thaten und Erlebnisse frei
erhalten zu wollen. Aus Wahrheit und Dichtung geht hervor, wie abergläubisch
er die Verwünschung jener leidenschaftlichen Lucinde aufrecht erhielt, die seine
Lippen gegen jede Berührung mit einem Feuerkuß versiegelt hatte. Lauge ließ
er sich wirklich dadurch zurückhalten und glaubte an das Unheil, welches sein
Mund anrichten würde, bis er es bei der armen Friederike vergaß, jedoch auch
es gleich in Erfüllung gehen sah; denn das sorglose Glück des lieblichen Mädchens
vernichtet zu haben, konnte er sich nicht verhehlen. Er war selbst zu sehr Herzens¬
kenner, um sich darüber zu täuschen.

Goethe's küßte Besonnenheit, die ihn immer wieder, trotz aller Reizempfäng-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/392>, abgerufen am 22.12.2024.