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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Die Volkslieder aus des Knaben Wunderhorn haben die eigentliche Blüthe
unsrer neuen Lyrik gezeitigt; was Beachtenswerthes in dieser Art erschienen ist,
hat den nämlichen Ton angeschlagen. Aber auch die neumodische Arabcskeupoesie
rührt daher, das kindische Getändel mit wunderlichen Formen ohne irgend welche
Rücksicht auf den geistigen Inhalt. Diese Spielereien haben auf unser Gemüth
sehr schädlich eingewirkt.

Im engen Zusammenhang mit jener Liedersammlung stehen die Märchen-
und Sagensammlnngeu, deren sich bald die wirkliche Gelehrsamkeit bemächtigte,
und die für die Kenntniß unsres Volksgeistes eine d.er wichtigsten Quellen ge¬
worden sind, wenn auch die Copie die sreie, geniale Weiterbildung des Originals
unmöglich gemacht hat; stehen ferner die Auffrischungen alter VolkSromane und
Puppenspiele im Renaissance-Geschmack, von denen Arnim 1809 unter dem Titel
"Wintergarten" eine Sammlung herausgab, durch eine närrische Allegorie
dürftig zusammengehalten, und mit neuen Erzählungen im Geschmack jenes alten
Styls durchwebt. Die naive Armuth und Unbehilflichkeit der Schriftsteller des
16. und 17. Jahrhunderts, das Eckige oder gar Falsche der Zeichnung, die
natürliche Eigenschaft einer mangelhaften Technik, wird absichtlich nachgemacht, um
etwas Kindliches, Unschuldiges, Ursprüngliches wieder hervorzurufen. Indessen
würde man doch irren, wenn man diese Erzählungen für interesselos oder durch¬
aus unpoetisch hielte. Es sind Gemälde darin im Sinn der niederländischen
Schule, die in Beziehung ans derbe Realität und ans die Mannichfaltigkeit der
Figuren einen großen Werth haben. Arnim hat das Leben, welches er schil¬
dern will, wirklich bis in's kleinste Detail studirt, er hat sich mit allem Aufgebot
der Phantasie in die geschilderte Zeit vertieft. Wir können gleich die spätern
Novellen mit dazu nehmen, denn eine innere Entwickelungsgeschichte ist kaum bei ihm
nachzuweisen. Die Zeit, die er vorzugsweise schildert, ist die ehrsame Periode
der Zünfte. Sein ciuserwähltes Volk sind die Holländer, deren närrisch verstän¬
diger Sinn, deren durchgebildete Dctaileuipstndung und deren prosaisch groteske
Beschäftigung seinem Humor den angemessensten Stoff geben. Dahin gehören z. B.
die beiden Erzählungen: "Holländische Liebhaber" und die drei schönen
Schwestern und der glückliche Färber". Es ist in diesen Erzählungen
ein Realismus, wie wir ihn in Deutschland gar nicht gewohnt sind, eine bunte
und grelle Mannichfaltigkeit der Farben, selbst hinter sen grotesken Formen eine
gewisse Gemüthlichkeit, aber doch tonnen sie uns nicht befriedigen, denn es fehlt
in der Erzählung wie in der Charakteristik alle Idealität; wir wissen nicht, warum
wir uns für die Einen oder für die Anderen interessiren sollen, und dieses Interesse
zu erwecken, ist allerdings die Aufgabe des Dichters, denn wenn er uns blos die
reale Welt geben wollte, so wäre seiue ganze Poesie von Ueberfluß. Auch der
Humor, wenn er die scheinbaren Gegensätze der Welt in einander ausgehtt läßt,
kann dies nur durch die Andeutung eines höhern dichterischen Standpunktes recht-


Die Volkslieder aus des Knaben Wunderhorn haben die eigentliche Blüthe
unsrer neuen Lyrik gezeitigt; was Beachtenswerthes in dieser Art erschienen ist,
hat den nämlichen Ton angeschlagen. Aber auch die neumodische Arabcskeupoesie
rührt daher, das kindische Getändel mit wunderlichen Formen ohne irgend welche
Rücksicht auf den geistigen Inhalt. Diese Spielereien haben auf unser Gemüth
sehr schädlich eingewirkt.

Im engen Zusammenhang mit jener Liedersammlung stehen die Märchen-
und Sagensammlnngeu, deren sich bald die wirkliche Gelehrsamkeit bemächtigte,
und die für die Kenntniß unsres Volksgeistes eine d.er wichtigsten Quellen ge¬
worden sind, wenn auch die Copie die sreie, geniale Weiterbildung des Originals
unmöglich gemacht hat; stehen ferner die Auffrischungen alter VolkSromane und
Puppenspiele im Renaissance-Geschmack, von denen Arnim 1809 unter dem Titel
„Wintergarten" eine Sammlung herausgab, durch eine närrische Allegorie
dürftig zusammengehalten, und mit neuen Erzählungen im Geschmack jenes alten
Styls durchwebt. Die naive Armuth und Unbehilflichkeit der Schriftsteller des
16. und 17. Jahrhunderts, das Eckige oder gar Falsche der Zeichnung, die
natürliche Eigenschaft einer mangelhaften Technik, wird absichtlich nachgemacht, um
etwas Kindliches, Unschuldiges, Ursprüngliches wieder hervorzurufen. Indessen
würde man doch irren, wenn man diese Erzählungen für interesselos oder durch¬
aus unpoetisch hielte. Es sind Gemälde darin im Sinn der niederländischen
Schule, die in Beziehung ans derbe Realität und ans die Mannichfaltigkeit der
Figuren einen großen Werth haben. Arnim hat das Leben, welches er schil¬
dern will, wirklich bis in's kleinste Detail studirt, er hat sich mit allem Aufgebot
der Phantasie in die geschilderte Zeit vertieft. Wir können gleich die spätern
Novellen mit dazu nehmen, denn eine innere Entwickelungsgeschichte ist kaum bei ihm
nachzuweisen. Die Zeit, die er vorzugsweise schildert, ist die ehrsame Periode
der Zünfte. Sein ciuserwähltes Volk sind die Holländer, deren närrisch verstän¬
diger Sinn, deren durchgebildete Dctaileuipstndung und deren prosaisch groteske
Beschäftigung seinem Humor den angemessensten Stoff geben. Dahin gehören z. B.
die beiden Erzählungen: „Holländische Liebhaber" und die drei schönen
Schwestern und der glückliche Färber". Es ist in diesen Erzählungen
ein Realismus, wie wir ihn in Deutschland gar nicht gewohnt sind, eine bunte
und grelle Mannichfaltigkeit der Farben, selbst hinter sen grotesken Formen eine
gewisse Gemüthlichkeit, aber doch tonnen sie uns nicht befriedigen, denn es fehlt
in der Erzählung wie in der Charakteristik alle Idealität; wir wissen nicht, warum
wir uns für die Einen oder für die Anderen interessiren sollen, und dieses Interesse
zu erwecken, ist allerdings die Aufgabe des Dichters, denn wenn er uns blos die
reale Welt geben wollte, so wäre seiue ganze Poesie von Ueberfluß. Auch der
Humor, wenn er die scheinbaren Gegensätze der Welt in einander ausgehtt läßt,
kann dies nur durch die Andeutung eines höhern dichterischen Standpunktes recht-


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[0308] Die Volkslieder aus des Knaben Wunderhorn haben die eigentliche Blüthe unsrer neuen Lyrik gezeitigt; was Beachtenswerthes in dieser Art erschienen ist, hat den nämlichen Ton angeschlagen. Aber auch die neumodische Arabcskeupoesie rührt daher, das kindische Getändel mit wunderlichen Formen ohne irgend welche Rücksicht auf den geistigen Inhalt. Diese Spielereien haben auf unser Gemüth sehr schädlich eingewirkt. Im engen Zusammenhang mit jener Liedersammlung stehen die Märchen- und Sagensammlnngeu, deren sich bald die wirkliche Gelehrsamkeit bemächtigte, und die für die Kenntniß unsres Volksgeistes eine d.er wichtigsten Quellen ge¬ worden sind, wenn auch die Copie die sreie, geniale Weiterbildung des Originals unmöglich gemacht hat; stehen ferner die Auffrischungen alter VolkSromane und Puppenspiele im Renaissance-Geschmack, von denen Arnim 1809 unter dem Titel „Wintergarten" eine Sammlung herausgab, durch eine närrische Allegorie dürftig zusammengehalten, und mit neuen Erzählungen im Geschmack jenes alten Styls durchwebt. Die naive Armuth und Unbehilflichkeit der Schriftsteller des 16. und 17. Jahrhunderts, das Eckige oder gar Falsche der Zeichnung, die natürliche Eigenschaft einer mangelhaften Technik, wird absichtlich nachgemacht, um etwas Kindliches, Unschuldiges, Ursprüngliches wieder hervorzurufen. Indessen würde man doch irren, wenn man diese Erzählungen für interesselos oder durch¬ aus unpoetisch hielte. Es sind Gemälde darin im Sinn der niederländischen Schule, die in Beziehung ans derbe Realität und ans die Mannichfaltigkeit der Figuren einen großen Werth haben. Arnim hat das Leben, welches er schil¬ dern will, wirklich bis in's kleinste Detail studirt, er hat sich mit allem Aufgebot der Phantasie in die geschilderte Zeit vertieft. Wir können gleich die spätern Novellen mit dazu nehmen, denn eine innere Entwickelungsgeschichte ist kaum bei ihm nachzuweisen. Die Zeit, die er vorzugsweise schildert, ist die ehrsame Periode der Zünfte. Sein ciuserwähltes Volk sind die Holländer, deren närrisch verstän¬ diger Sinn, deren durchgebildete Dctaileuipstndung und deren prosaisch groteske Beschäftigung seinem Humor den angemessensten Stoff geben. Dahin gehören z. B. die beiden Erzählungen: „Holländische Liebhaber" und die drei schönen Schwestern und der glückliche Färber". Es ist in diesen Erzählungen ein Realismus, wie wir ihn in Deutschland gar nicht gewohnt sind, eine bunte und grelle Mannichfaltigkeit der Farben, selbst hinter sen grotesken Formen eine gewisse Gemüthlichkeit, aber doch tonnen sie uns nicht befriedigen, denn es fehlt in der Erzählung wie in der Charakteristik alle Idealität; wir wissen nicht, warum wir uns für die Einen oder für die Anderen interessiren sollen, und dieses Interesse zu erwecken, ist allerdings die Aufgabe des Dichters, denn wenn er uns blos die reale Welt geben wollte, so wäre seiue ganze Poesie von Ueberfluß. Auch der Humor, wenn er die scheinbaren Gegensätze der Welt in einander ausgehtt läßt, kann dies nur durch die Andeutung eines höhern dichterischen Standpunktes recht-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/308>, abgerufen am 22.12.2024.