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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Das erste Werk, mit welchem Arnim eigentlich in die Literatur eintrat, war
"des Knaben W und erHorn", drei Bände, 1806 -- 1808. Er hatte zwar
schon vorher Einiges geschrieben, z, B. 'einen Roman: "Ariel's Offenbarungen"
und eine Theorie der elektrischen Erscheinungen, 1799, aber diese sind nur in
sofern von Bedeutung, als sie uns seine ersten jugendlichen Beschäftigungen ver¬
sinnlichen. Arnim war 1781 in Berlin geboren und hatte neben dem Studium
der Naturwisseufthafteu in seinen vielfachen Reisen durch alle Theile Deutschlands
die Eigenthümlichkeiten des deutscheu Volkslebens nach seineu landschaftlichen
Verschiedenheiten aufzufassen gesucht. Bei jener Sammlung von deutschen Volks¬
liedern hatte ihn sein Freund Clemens Brentano unterstützt und auch dessen
Schwester Bcttine, seine spätere Gemahlin, hatte, wie sie wenigstens uns selbst
erzählt, ihr Scherflein beigetragen.

Bei der Sammlung ist anch die Nachschrift, mit welcher Arnim den ersten
Theil begleitete, von Interesse. Es ist in derselben in einer ziemlich gothischen
Sprache Alles zusammengestellt, was die Sehnsucht nach individuellem charakte¬
ristischem Leben gegen das humanifirende Streben der Aufklärung vorbringen
konnte, von poetischem, socialem, selbst politischem Standpunkt aus. "Die
eigentliche Geschichte", schrieb Arnim zehn Jahre später, ,,war mir damals
unter der trübsinnigen Last, die auf Deutschland ruhte, ein Gegenstand des Ab¬
scheus. Ich suchte sie bei der Poesie zu vergessen, ich fand in ihr ein Etwas,
das sein Wesen nicht von der Jahreszahl borgte, sondern das frei durch alle Zeiten
hindurch lebte. Dieses Wesen, das mich in den neuen und alten Schriften gleich
lebhaft anregte, suchte ich in seinen sichtbarsten Zeichen auch Anderen mitzutheilen,
ich verschmähte es nicht, wo ich es in mir selbst zu entdecken glaubte, und so
wurden diese Lieder ein Aufnehmen des Fremden in uns." Wenn auch der
Gedanke nicht klar ausgesprochen ist, so wird uns doch die Stimmung deutlich
genug verherrlicht, nud wir fügen als Ergänzung noch einen Ausspruch Goethe's
hinzu, der sich damals lebhaft für die Sammlung interessirte und mit einer ähn¬
lichen Schen sich vor der wirklichen Geschichte zurückzog. "Ein Gefühl, das bei
mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte,
war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins, eine Anschau¬
ung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie wirkt im Ge¬
dicht immer wohlthätig, ob sie sich gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar
am Leben und im Leben selbst ausdrückt, zuweilen seltsam, unerklärlich, vielleicht
unerfreulich scheinen müßte." Werden wir dabei noch lebhaft an Novalis' Auf¬
fassung von der Geschichtschreibung erinnert, nach welcher'Geschichte und Mythe
zusammenschmelzen, und indem sie die höchsten Ideale des Denkens in sich repro-
duciren, doch zu gleicher Zeit den Eindruck eines Traums macheu sollten, so springt
doch der Unterschied sehr lebhaft in die Angen. Bei Novalis waltete die Ab¬
neigung gegen alles Bestimmte, Individuelle, Anschauliche vor, und seine Ideale


Das erste Werk, mit welchem Arnim eigentlich in die Literatur eintrat, war
„des Knaben W und erHorn", drei Bände, 1806 — 1808. Er hatte zwar
schon vorher Einiges geschrieben, z, B. 'einen Roman: „Ariel's Offenbarungen"
und eine Theorie der elektrischen Erscheinungen, 1799, aber diese sind nur in
sofern von Bedeutung, als sie uns seine ersten jugendlichen Beschäftigungen ver¬
sinnlichen. Arnim war 1781 in Berlin geboren und hatte neben dem Studium
der Naturwisseufthafteu in seinen vielfachen Reisen durch alle Theile Deutschlands
die Eigenthümlichkeiten des deutscheu Volkslebens nach seineu landschaftlichen
Verschiedenheiten aufzufassen gesucht. Bei jener Sammlung von deutschen Volks¬
liedern hatte ihn sein Freund Clemens Brentano unterstützt und auch dessen
Schwester Bcttine, seine spätere Gemahlin, hatte, wie sie wenigstens uns selbst
erzählt, ihr Scherflein beigetragen.

Bei der Sammlung ist anch die Nachschrift, mit welcher Arnim den ersten
Theil begleitete, von Interesse. Es ist in derselben in einer ziemlich gothischen
Sprache Alles zusammengestellt, was die Sehnsucht nach individuellem charakte¬
ristischem Leben gegen das humanifirende Streben der Aufklärung vorbringen
konnte, von poetischem, socialem, selbst politischem Standpunkt aus. „Die
eigentliche Geschichte", schrieb Arnim zehn Jahre später, ,,war mir damals
unter der trübsinnigen Last, die auf Deutschland ruhte, ein Gegenstand des Ab¬
scheus. Ich suchte sie bei der Poesie zu vergessen, ich fand in ihr ein Etwas,
das sein Wesen nicht von der Jahreszahl borgte, sondern das frei durch alle Zeiten
hindurch lebte. Dieses Wesen, das mich in den neuen und alten Schriften gleich
lebhaft anregte, suchte ich in seinen sichtbarsten Zeichen auch Anderen mitzutheilen,
ich verschmähte es nicht, wo ich es in mir selbst zu entdecken glaubte, und so
wurden diese Lieder ein Aufnehmen des Fremden in uns." Wenn auch der
Gedanke nicht klar ausgesprochen ist, so wird uns doch die Stimmung deutlich
genug verherrlicht, nud wir fügen als Ergänzung noch einen Ausspruch Goethe's
hinzu, der sich damals lebhaft für die Sammlung interessirte und mit einer ähn¬
lichen Schen sich vor der wirklichen Geschichte zurückzog. „Ein Gefühl, das bei
mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte,
war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins, eine Anschau¬
ung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie wirkt im Ge¬
dicht immer wohlthätig, ob sie sich gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar
am Leben und im Leben selbst ausdrückt, zuweilen seltsam, unerklärlich, vielleicht
unerfreulich scheinen müßte." Werden wir dabei noch lebhaft an Novalis' Auf¬
fassung von der Geschichtschreibung erinnert, nach welcher'Geschichte und Mythe
zusammenschmelzen, und indem sie die höchsten Ideale des Denkens in sich repro-
duciren, doch zu gleicher Zeit den Eindruck eines Traums macheu sollten, so springt
doch der Unterschied sehr lebhaft in die Angen. Bei Novalis waltete die Ab¬
neigung gegen alles Bestimmte, Individuelle, Anschauliche vor, und seine Ideale


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[0305] Das erste Werk, mit welchem Arnim eigentlich in die Literatur eintrat, war „des Knaben W und erHorn", drei Bände, 1806 — 1808. Er hatte zwar schon vorher Einiges geschrieben, z, B. 'einen Roman: „Ariel's Offenbarungen" und eine Theorie der elektrischen Erscheinungen, 1799, aber diese sind nur in sofern von Bedeutung, als sie uns seine ersten jugendlichen Beschäftigungen ver¬ sinnlichen. Arnim war 1781 in Berlin geboren und hatte neben dem Studium der Naturwisseufthafteu in seinen vielfachen Reisen durch alle Theile Deutschlands die Eigenthümlichkeiten des deutscheu Volkslebens nach seineu landschaftlichen Verschiedenheiten aufzufassen gesucht. Bei jener Sammlung von deutschen Volks¬ liedern hatte ihn sein Freund Clemens Brentano unterstützt und auch dessen Schwester Bcttine, seine spätere Gemahlin, hatte, wie sie wenigstens uns selbst erzählt, ihr Scherflein beigetragen. Bei der Sammlung ist anch die Nachschrift, mit welcher Arnim den ersten Theil begleitete, von Interesse. Es ist in derselben in einer ziemlich gothischen Sprache Alles zusammengestellt, was die Sehnsucht nach individuellem charakte¬ ristischem Leben gegen das humanifirende Streben der Aufklärung vorbringen konnte, von poetischem, socialem, selbst politischem Standpunkt aus. „Die eigentliche Geschichte", schrieb Arnim zehn Jahre später, ,,war mir damals unter der trübsinnigen Last, die auf Deutschland ruhte, ein Gegenstand des Ab¬ scheus. Ich suchte sie bei der Poesie zu vergessen, ich fand in ihr ein Etwas, das sein Wesen nicht von der Jahreszahl borgte, sondern das frei durch alle Zeiten hindurch lebte. Dieses Wesen, das mich in den neuen und alten Schriften gleich lebhaft anregte, suchte ich in seinen sichtbarsten Zeichen auch Anderen mitzutheilen, ich verschmähte es nicht, wo ich es in mir selbst zu entdecken glaubte, und so wurden diese Lieder ein Aufnehmen des Fremden in uns." Wenn auch der Gedanke nicht klar ausgesprochen ist, so wird uns doch die Stimmung deutlich genug verherrlicht, nud wir fügen als Ergänzung noch einen Ausspruch Goethe's hinzu, der sich damals lebhaft für die Sammlung interessirte und mit einer ähn¬ lichen Schen sich vor der wirklichen Geschichte zurückzog. „Ein Gefühl, das bei mir gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins, eine Anschau¬ ung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie wirkt im Ge¬ dicht immer wohlthätig, ob sie sich gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückt, zuweilen seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen müßte." Werden wir dabei noch lebhaft an Novalis' Auf¬ fassung von der Geschichtschreibung erinnert, nach welcher'Geschichte und Mythe zusammenschmelzen, und indem sie die höchsten Ideale des Denkens in sich repro- duciren, doch zu gleicher Zeit den Eindruck eines Traums macheu sollten, so springt doch der Unterschied sehr lebhaft in die Angen. Bei Novalis waltete die Ab¬ neigung gegen alles Bestimmte, Individuelle, Anschauliche vor, und seine Ideale

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/305>, abgerufen am 22.12.2024.