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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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mit lebhafter Phantasie verfochten, allein'es fehlt die Auskunft über die Natur
dieser Erscheinungen, die auch bei Untersuchungen über ein Gefühl unerläßlich ist.
Eine so zweifelhafte Befriedigung Schleiermacher's Reden über die Religion ge¬
währen, wenn man eine gründliche, nach allen Seiten hin abschließende genetische
Begriffsbestimmung der Religion erwartet, so findet man in ihnen doch wenigstens
nach einer Seite hin viel bestimmtere Fingerzeige, als in irgend einer der Vi¬
stonen Carlyle's. Der Grund davon ist leicht begreiflich. Schleiermacher geht
in seinen Untersuchungen sehr zart/man möchte sagen, mit mädchenhafter Schüch¬
ternheit zu Werke, und darum erbauen sich namentlich viele weibliche Gemüther
daran, die, wenn man ihnen dasselbe mit dürren Worten sagte, voll Entsetzen zu¬
rückbeben würden; aber der Gedanke, der ihm dabei vorschwebt, ist wenigstens
ihm selbst sehr klar und vollständig. Er will die Religion allerdings als etwas
Höheres und Heiligeres darstellen, als die gewöhnlichen praktischen Zwecke, allein
er stellt sie eben so, entschieden als eine wesentliche Eigenschaft und gewissermaßen
als eine Schöpfung des menschlichen Geistes dar; erläßt dem Supranaturalismus
keine Hinterthür. ' Bei Carlyle ist es umgekehrt. Er spricht stets mit der größten
Hitze und Leidenschaft, in Bildern, die sich überstürzen, in zornigen Ausrufen, in
dunkeln Prophezeihungen, -- er ist niemals im Stande, den Ton ruhiger Unter¬
suchung anzuschlagen; aber eben diese Heftigkeit ist nur ein Zeichen von dem
Mangel an innerer Durchbildung. Er preist zwar die Religion, und vertheidigt
ihre Freiheit und Ursprünglichkeit gegen den Macchiavellismus des, Nützlichkeits¬
systems, aber er denkt nie daran, festzustellen, was sie eigentlich ist.

Im Jahre 1837 erschien seine Geschichte- der französischen Revolution; das
originellste Buch, das über diesen Gegenstand geschrieben ist. Carlyle hat sich
die Aufgabe gesetzt, in seiner Geschichte nicht blos einen ganz bestimmten Gegen¬
stand zu behandeln, wie es bei den Historikern des Alterthums der Fall war,
sondern die ganze Zeit in der Fülle ihrer concreten Erscheinungen, nicht blos ihr
politisches, sondern auch ihr sociales, ihr dichterisches Leben, und das alles in
einer wenigstens annäherungsweise novellistischen Form. So wird z. B. in der
Geschichte des Champagneseldzngs Goethe eingeführt, wie er sich mitten in der
Kriegsunruhe mit der Farbenlehre beschäftigt. Daraus entsteht zwar eine sehr
bunte, lebendige Darstellung, aber die Aufmerksamkeit wird doch nach zu vielen
Seiten hin angeregt und eben dadurch verwirrt. Es ist in dieser historischen
Darstellung wie in seinen philosophischen Untersuchungen. Weil er auf seinem
Wege gleichzeitig zu viel übersehen will, verliert er das leitende Ziel aus den
Augen, und mit diesem auch die leitende Idee. Aber im Uebrigen hat das Buch
sehr große Verdienste. Einzelne psychologische Züge sind mit großer Feinheit,
man kann sagen, mit Genialität analysirt, und die Portraits der handelnden Per¬
sonen mit einer plastischen Bestimmtheit gezeichnet, die durch keine Parteilichkeit
getrübt wird; freilich auch mit einiger Vorliebe für jene grellen Gegensätze im


mit lebhafter Phantasie verfochten, allein'es fehlt die Auskunft über die Natur
dieser Erscheinungen, die auch bei Untersuchungen über ein Gefühl unerläßlich ist.
Eine so zweifelhafte Befriedigung Schleiermacher's Reden über die Religion ge¬
währen, wenn man eine gründliche, nach allen Seiten hin abschließende genetische
Begriffsbestimmung der Religion erwartet, so findet man in ihnen doch wenigstens
nach einer Seite hin viel bestimmtere Fingerzeige, als in irgend einer der Vi¬
stonen Carlyle's. Der Grund davon ist leicht begreiflich. Schleiermacher geht
in seinen Untersuchungen sehr zart/man möchte sagen, mit mädchenhafter Schüch¬
ternheit zu Werke, und darum erbauen sich namentlich viele weibliche Gemüther
daran, die, wenn man ihnen dasselbe mit dürren Worten sagte, voll Entsetzen zu¬
rückbeben würden; aber der Gedanke, der ihm dabei vorschwebt, ist wenigstens
ihm selbst sehr klar und vollständig. Er will die Religion allerdings als etwas
Höheres und Heiligeres darstellen, als die gewöhnlichen praktischen Zwecke, allein
er stellt sie eben so, entschieden als eine wesentliche Eigenschaft und gewissermaßen
als eine Schöpfung des menschlichen Geistes dar; erläßt dem Supranaturalismus
keine Hinterthür. ' Bei Carlyle ist es umgekehrt. Er spricht stets mit der größten
Hitze und Leidenschaft, in Bildern, die sich überstürzen, in zornigen Ausrufen, in
dunkeln Prophezeihungen, — er ist niemals im Stande, den Ton ruhiger Unter¬
suchung anzuschlagen; aber eben diese Heftigkeit ist nur ein Zeichen von dem
Mangel an innerer Durchbildung. Er preist zwar die Religion, und vertheidigt
ihre Freiheit und Ursprünglichkeit gegen den Macchiavellismus des, Nützlichkeits¬
systems, aber er denkt nie daran, festzustellen, was sie eigentlich ist.

Im Jahre 1837 erschien seine Geschichte- der französischen Revolution; das
originellste Buch, das über diesen Gegenstand geschrieben ist. Carlyle hat sich
die Aufgabe gesetzt, in seiner Geschichte nicht blos einen ganz bestimmten Gegen¬
stand zu behandeln, wie es bei den Historikern des Alterthums der Fall war,
sondern die ganze Zeit in der Fülle ihrer concreten Erscheinungen, nicht blos ihr
politisches, sondern auch ihr sociales, ihr dichterisches Leben, und das alles in
einer wenigstens annäherungsweise novellistischen Form. So wird z. B. in der
Geschichte des Champagneseldzngs Goethe eingeführt, wie er sich mitten in der
Kriegsunruhe mit der Farbenlehre beschäftigt. Daraus entsteht zwar eine sehr
bunte, lebendige Darstellung, aber die Aufmerksamkeit wird doch nach zu vielen
Seiten hin angeregt und eben dadurch verwirrt. Es ist in dieser historischen
Darstellung wie in seinen philosophischen Untersuchungen. Weil er auf seinem
Wege gleichzeitig zu viel übersehen will, verliert er das leitende Ziel aus den
Augen, und mit diesem auch die leitende Idee. Aber im Uebrigen hat das Buch
sehr große Verdienste. Einzelne psychologische Züge sind mit großer Feinheit,
man kann sagen, mit Genialität analysirt, und die Portraits der handelnden Per¬
sonen mit einer plastischen Bestimmtheit gezeichnet, die durch keine Parteilichkeit
getrübt wird; freilich auch mit einiger Vorliebe für jene grellen Gegensätze im


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[0235] mit lebhafter Phantasie verfochten, allein'es fehlt die Auskunft über die Natur dieser Erscheinungen, die auch bei Untersuchungen über ein Gefühl unerläßlich ist. Eine so zweifelhafte Befriedigung Schleiermacher's Reden über die Religion ge¬ währen, wenn man eine gründliche, nach allen Seiten hin abschließende genetische Begriffsbestimmung der Religion erwartet, so findet man in ihnen doch wenigstens nach einer Seite hin viel bestimmtere Fingerzeige, als in irgend einer der Vi¬ stonen Carlyle's. Der Grund davon ist leicht begreiflich. Schleiermacher geht in seinen Untersuchungen sehr zart/man möchte sagen, mit mädchenhafter Schüch¬ ternheit zu Werke, und darum erbauen sich namentlich viele weibliche Gemüther daran, die, wenn man ihnen dasselbe mit dürren Worten sagte, voll Entsetzen zu¬ rückbeben würden; aber der Gedanke, der ihm dabei vorschwebt, ist wenigstens ihm selbst sehr klar und vollständig. Er will die Religion allerdings als etwas Höheres und Heiligeres darstellen, als die gewöhnlichen praktischen Zwecke, allein er stellt sie eben so, entschieden als eine wesentliche Eigenschaft und gewissermaßen als eine Schöpfung des menschlichen Geistes dar; erläßt dem Supranaturalismus keine Hinterthür. ' Bei Carlyle ist es umgekehrt. Er spricht stets mit der größten Hitze und Leidenschaft, in Bildern, die sich überstürzen, in zornigen Ausrufen, in dunkeln Prophezeihungen, — er ist niemals im Stande, den Ton ruhiger Unter¬ suchung anzuschlagen; aber eben diese Heftigkeit ist nur ein Zeichen von dem Mangel an innerer Durchbildung. Er preist zwar die Religion, und vertheidigt ihre Freiheit und Ursprünglichkeit gegen den Macchiavellismus des, Nützlichkeits¬ systems, aber er denkt nie daran, festzustellen, was sie eigentlich ist. Im Jahre 1837 erschien seine Geschichte- der französischen Revolution; das originellste Buch, das über diesen Gegenstand geschrieben ist. Carlyle hat sich die Aufgabe gesetzt, in seiner Geschichte nicht blos einen ganz bestimmten Gegen¬ stand zu behandeln, wie es bei den Historikern des Alterthums der Fall war, sondern die ganze Zeit in der Fülle ihrer concreten Erscheinungen, nicht blos ihr politisches, sondern auch ihr sociales, ihr dichterisches Leben, und das alles in einer wenigstens annäherungsweise novellistischen Form. So wird z. B. in der Geschichte des Champagneseldzngs Goethe eingeführt, wie er sich mitten in der Kriegsunruhe mit der Farbenlehre beschäftigt. Daraus entsteht zwar eine sehr bunte, lebendige Darstellung, aber die Aufmerksamkeit wird doch nach zu vielen Seiten hin angeregt und eben dadurch verwirrt. Es ist in dieser historischen Darstellung wie in seinen philosophischen Untersuchungen. Weil er auf seinem Wege gleichzeitig zu viel übersehen will, verliert er das leitende Ziel aus den Augen, und mit diesem auch die leitende Idee. Aber im Uebrigen hat das Buch sehr große Verdienste. Einzelne psychologische Züge sind mit großer Feinheit, man kann sagen, mit Genialität analysirt, und die Portraits der handelnden Per¬ sonen mit einer plastischen Bestimmtheit gezeichnet, die durch keine Parteilichkeit getrübt wird; freilich auch mit einiger Vorliebe für jene grellen Gegensätze im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/235>, abgerufen am 22.12.2024.