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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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Neueste englische Literatur.
Thomas Carlyle, geb. 1796.

Unter sämmtlichen Schriftstellern des jungen England ist kaum einer, der
einen so ausgebreiteten Einfluß ans die Literatur ausgeübt hätte, als Carole.
Dieser Einfluß ist aber ein ganz anderer gewesen, als er selber beabsichtigt
hat. Er kommt mehrmals darauf zurück, daß er eigentlich die specifische Literatur
und Kunst sehr gering schätze, daß ein geistreicher Mann immer etwas Besseres
thun könne, als Bücher schreiben, und daß nnr die wirkliche Welt, die Welt des
Handelns, für ihn Interesse habe. Auf diese Welt hat er aber nie mich nur den
geringsten Einfluß ausgeübt. Er hat sich von dem Anfang seiner literarischen
Laufbahn an bis in die neueste Zeit hin, fortwährend mit den Tagesfragen be¬
schäftigt und sie ans eine eigenthümliche Weise zu beleuchten gestrebt; aber von
seinen Ideen ist keine zur Ausführung gekommen, ja es hat sich nicht einmal
eine Partei gefunden, die für sie ins Feld ginge. ^ Der Grund ist der, daß seine
Ideen nicht systematisch ausgearbeitet und mit Berücksichtigung aller Umstände
klar hingestellt waren, sondern sich stets im Reiche der Wünsche, der Ahnungen
und Visionen bewegten. Durch dergleichen gewinnt man zwar zahlreiche indi¬
viduelle Sympathien, aber man gründet keine fruchtbare politische Partei. Da¬
gegen sind von den neuesten Schriftstellern, wenn wir die gute altenglische Schule
aufnehmen, die meisten mehr oder minder von seinem Geiste instcirt. Sie
weissagen, sie zweifeln, sie zürnen und sie trauern wie er, und dabei versäumen
sie keine Gelegenheit, vom Standpunkt ihres unaussprechlichen Idealismus aus,
der Sprache ebenso Gewalt anzuthun, als ihr Meister. Das gilt nicht allein
von seinen eigentlichen Anhängern, von Kingsley, Maurice bis zu Thackeray und
Cnrrer Bell hinunter, sondern auch von Schriftstellern, die scheinbar einer ganz
andern Richtung angehören, z. B. von Jsraeli und Bulwer, diesem Zwillings¬
gestirn des jungenglischen Torismus. Auch sie haben von Carlyle gelernt, jeden
Gegenstand von Gesichtspunkten zu betrachten, die ihm ein unmögliches, unglaub¬
liches Licht geben, "und ihren Geist auf Irrfahrten zu schicken, mit dem behag¬
lichen Gefühl, daß er durch seine eigenen Erfolge überrascht werden muß, weil'
er'niemals weiß, wohin er geht.

In früherer Zeit betrachtete man als das wesentliche Erfordernis; einer
guten Prosa, daß ein genauer, scharf abgemessener Gedankengang festgehalten
wurde, aus dem sich das Resultat mit Nothwendigkeit ergeben mußte, sowie seiner¬
seits der Weg durch das Resultat bestimmt wurde. Die musterhaften Schrift¬
steller aller Zeiten und Völker haben dieses' Gesetz beobachtet. Diese Klarheit
und Einfachheit ist neuerdings in Verruf gekommen, und man hat sie mit Ruch-


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Neueste englische Literatur.
Thomas Carlyle, geb. 1796.

Unter sämmtlichen Schriftstellern des jungen England ist kaum einer, der
einen so ausgebreiteten Einfluß ans die Literatur ausgeübt hätte, als Carole.
Dieser Einfluß ist aber ein ganz anderer gewesen, als er selber beabsichtigt
hat. Er kommt mehrmals darauf zurück, daß er eigentlich die specifische Literatur
und Kunst sehr gering schätze, daß ein geistreicher Mann immer etwas Besseres
thun könne, als Bücher schreiben, und daß nnr die wirkliche Welt, die Welt des
Handelns, für ihn Interesse habe. Auf diese Welt hat er aber nie mich nur den
geringsten Einfluß ausgeübt. Er hat sich von dem Anfang seiner literarischen
Laufbahn an bis in die neueste Zeit hin, fortwährend mit den Tagesfragen be¬
schäftigt und sie ans eine eigenthümliche Weise zu beleuchten gestrebt; aber von
seinen Ideen ist keine zur Ausführung gekommen, ja es hat sich nicht einmal
eine Partei gefunden, die für sie ins Feld ginge. ^ Der Grund ist der, daß seine
Ideen nicht systematisch ausgearbeitet und mit Berücksichtigung aller Umstände
klar hingestellt waren, sondern sich stets im Reiche der Wünsche, der Ahnungen
und Visionen bewegten. Durch dergleichen gewinnt man zwar zahlreiche indi¬
viduelle Sympathien, aber man gründet keine fruchtbare politische Partei. Da¬
gegen sind von den neuesten Schriftstellern, wenn wir die gute altenglische Schule
aufnehmen, die meisten mehr oder minder von seinem Geiste instcirt. Sie
weissagen, sie zweifeln, sie zürnen und sie trauern wie er, und dabei versäumen
sie keine Gelegenheit, vom Standpunkt ihres unaussprechlichen Idealismus aus,
der Sprache ebenso Gewalt anzuthun, als ihr Meister. Das gilt nicht allein
von seinen eigentlichen Anhängern, von Kingsley, Maurice bis zu Thackeray und
Cnrrer Bell hinunter, sondern auch von Schriftstellern, die scheinbar einer ganz
andern Richtung angehören, z. B. von Jsraeli und Bulwer, diesem Zwillings¬
gestirn des jungenglischen Torismus. Auch sie haben von Carlyle gelernt, jeden
Gegenstand von Gesichtspunkten zu betrachten, die ihm ein unmögliches, unglaub¬
liches Licht geben, „und ihren Geist auf Irrfahrten zu schicken, mit dem behag¬
lichen Gefühl, daß er durch seine eigenen Erfolge überrascht werden muß, weil'
er'niemals weiß, wohin er geht.

In früherer Zeit betrachtete man als das wesentliche Erfordernis; einer
guten Prosa, daß ein genauer, scharf abgemessener Gedankengang festgehalten
wurde, aus dem sich das Resultat mit Nothwendigkeit ergeben mußte, sowie seiner¬
seits der Weg durch das Resultat bestimmt wurde. Die musterhaften Schrift¬
steller aller Zeiten und Völker haben dieses' Gesetz beobachtet. Diese Klarheit
und Einfachheit ist neuerdings in Verruf gekommen, und man hat sie mit Ruch-


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[0231] Neueste englische Literatur. Thomas Carlyle, geb. 1796. Unter sämmtlichen Schriftstellern des jungen England ist kaum einer, der einen so ausgebreiteten Einfluß ans die Literatur ausgeübt hätte, als Carole. Dieser Einfluß ist aber ein ganz anderer gewesen, als er selber beabsichtigt hat. Er kommt mehrmals darauf zurück, daß er eigentlich die specifische Literatur und Kunst sehr gering schätze, daß ein geistreicher Mann immer etwas Besseres thun könne, als Bücher schreiben, und daß nnr die wirkliche Welt, die Welt des Handelns, für ihn Interesse habe. Auf diese Welt hat er aber nie mich nur den geringsten Einfluß ausgeübt. Er hat sich von dem Anfang seiner literarischen Laufbahn an bis in die neueste Zeit hin, fortwährend mit den Tagesfragen be¬ schäftigt und sie ans eine eigenthümliche Weise zu beleuchten gestrebt; aber von seinen Ideen ist keine zur Ausführung gekommen, ja es hat sich nicht einmal eine Partei gefunden, die für sie ins Feld ginge. ^ Der Grund ist der, daß seine Ideen nicht systematisch ausgearbeitet und mit Berücksichtigung aller Umstände klar hingestellt waren, sondern sich stets im Reiche der Wünsche, der Ahnungen und Visionen bewegten. Durch dergleichen gewinnt man zwar zahlreiche indi¬ viduelle Sympathien, aber man gründet keine fruchtbare politische Partei. Da¬ gegen sind von den neuesten Schriftstellern, wenn wir die gute altenglische Schule aufnehmen, die meisten mehr oder minder von seinem Geiste instcirt. Sie weissagen, sie zweifeln, sie zürnen und sie trauern wie er, und dabei versäumen sie keine Gelegenheit, vom Standpunkt ihres unaussprechlichen Idealismus aus, der Sprache ebenso Gewalt anzuthun, als ihr Meister. Das gilt nicht allein von seinen eigentlichen Anhängern, von Kingsley, Maurice bis zu Thackeray und Cnrrer Bell hinunter, sondern auch von Schriftstellern, die scheinbar einer ganz andern Richtung angehören, z. B. von Jsraeli und Bulwer, diesem Zwillings¬ gestirn des jungenglischen Torismus. Auch sie haben von Carlyle gelernt, jeden Gegenstand von Gesichtspunkten zu betrachten, die ihm ein unmögliches, unglaub¬ liches Licht geben, „und ihren Geist auf Irrfahrten zu schicken, mit dem behag¬ lichen Gefühl, daß er durch seine eigenen Erfolge überrascht werden muß, weil' er'niemals weiß, wohin er geht. In früherer Zeit betrachtete man als das wesentliche Erfordernis; einer guten Prosa, daß ein genauer, scharf abgemessener Gedankengang festgehalten wurde, aus dem sich das Resultat mit Nothwendigkeit ergeben mußte, sowie seiner¬ seits der Weg durch das Resultat bestimmt wurde. Die musterhaften Schrift¬ steller aller Zeiten und Völker haben dieses' Gesetz beobachtet. Diese Klarheit und Einfachheit ist neuerdings in Verruf gekommen, und man hat sie mit Ruch- .28*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/231>, abgerufen am 22.12.2024.