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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.

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allmählich alle Fähigkeit erstorben zu sein. In früheren Zeiten und namentlich
noch im 16. Jahrhundert war es keineswegs der Fall. Montaigne und Rabelais
stehen keinem englischen oder deutschen Humoristen nach. Aber in der neuesten
Zeit drängt sich das Pathos und der Witz zu sehr hervor und verkümmert die
Freiheit und Unbefangenheit. -- Wir können z. B. bei Paul de Kock über die
närrischen Einfälle häufig lachen, aber diese Lust beruht lediglich im Negativen.
Der Dichter versteht nicht/ uns seine komischen Situationen so nahe zu rücken,
daß wir ein ruhiges Behagen daran finden. Es ist das vielleicht auch der Grund,
warum wir, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, und uns nicht etwa durch poli¬
tische oder andere Sympathien bestechen lassen, niemals das große Interesse be¬
greifen können, das die Franzosen an Bvranger finden. Die Stimmung in diesen
Gedichten ist zwar hänfig sehr heiter, aber eigentlich niemals behaglich, nicht
einmal drollig. Ehe man sich's versieht,' ist man immer wieder in die etwas
monotone Vorstellung der militärischen Größe und des Jesuitenhasses versetzt.

Es würde aber sehr voreilig sein, wenn wir ans diesem Mangel an Humor
in der Literatur ans die Abwesenheit des Humors im Volke schließen wollten.
Nichts kann so geeignet sein, uns.über diese Einseitigkeit aufzuklären, als die
französische Kunst, und in dieser, so weit sie hier in Betracht kommt, nimmt
Gavarni unstreitig den ersten Platz ein.

Wer hat unter nus uicht mit Vergnügen im Charivari geblättert, und zwar
nicht in den politischen Caricaturen, die in ihrer Fratzenhaftigkeit nicht einmal
viel Phantasie verrathen, und die uns die nackte, widerwärtige Häßlichkeit vor¬
führen, sondern in den größer ausgeführten humoristischen Schilderungen aus
dem Pariser Leben. Bei weitem die besten dieser Bilder sind von Gavarni. Ein
Theil derselben ist 18i6 unter der Aufsicht des Malers selbst von dem Buchhändler
Hetze! gesammelt. Diese Sammlung bi'edel einen unerschöpflichen Reichthum an
drolligen. Charaktere" und Situationen, wie wir ihn nicht leicht bei einer andern
Nation vorfinden. Freilich nicht eine Fülle wirklich origineller Figuren, wie der
britische Dichter sie erfindet, im Gegentheil haben sie alle etwas Typisches, und
auch die Situationen sind höchst einfach und gleichmäßig, aber in der Nuancinmg
derselben ist der Künstler so unerschöpflich, und weiß jedesmal dem Gegenstand
eine so neue und interessante Seite abzugewinnen, daß man die Bilder, so oft
man sie auch augesehen haben mag, nie aus der Hand legen wird, ohne eine
neue Lust daran zu finden.

Diese Bilder sind im Ganzen in Deutschland nicht so populair, als z. B.
die "beseelten Blumen" und die "beseelten Sterne," von Granville. Wir
wollen nicht verkennen, daß auch in den letztern sich sehr viel Anmuth und Grazie
entwickelt, zuweilen sogar auch eine gar nicht schlecht aussehende Coquetterie der
Komik; aber das ganze Genre ist doch ein höchst capriciöses. und nicht besonders
förderlich für den echten Kunstgeschmack.


allmählich alle Fähigkeit erstorben zu sein. In früheren Zeiten und namentlich
noch im 16. Jahrhundert war es keineswegs der Fall. Montaigne und Rabelais
stehen keinem englischen oder deutschen Humoristen nach. Aber in der neuesten
Zeit drängt sich das Pathos und der Witz zu sehr hervor und verkümmert die
Freiheit und Unbefangenheit. — Wir können z. B. bei Paul de Kock über die
närrischen Einfälle häufig lachen, aber diese Lust beruht lediglich im Negativen.
Der Dichter versteht nicht/ uns seine komischen Situationen so nahe zu rücken,
daß wir ein ruhiges Behagen daran finden. Es ist das vielleicht auch der Grund,
warum wir, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, und uns nicht etwa durch poli¬
tische oder andere Sympathien bestechen lassen, niemals das große Interesse be¬
greifen können, das die Franzosen an Bvranger finden. Die Stimmung in diesen
Gedichten ist zwar hänfig sehr heiter, aber eigentlich niemals behaglich, nicht
einmal drollig. Ehe man sich's versieht,' ist man immer wieder in die etwas
monotone Vorstellung der militärischen Größe und des Jesuitenhasses versetzt.

Es würde aber sehr voreilig sein, wenn wir ans diesem Mangel an Humor
in der Literatur ans die Abwesenheit des Humors im Volke schließen wollten.
Nichts kann so geeignet sein, uns.über diese Einseitigkeit aufzuklären, als die
französische Kunst, und in dieser, so weit sie hier in Betracht kommt, nimmt
Gavarni unstreitig den ersten Platz ein.

Wer hat unter nus uicht mit Vergnügen im Charivari geblättert, und zwar
nicht in den politischen Caricaturen, die in ihrer Fratzenhaftigkeit nicht einmal
viel Phantasie verrathen, und die uns die nackte, widerwärtige Häßlichkeit vor¬
führen, sondern in den größer ausgeführten humoristischen Schilderungen aus
dem Pariser Leben. Bei weitem die besten dieser Bilder sind von Gavarni. Ein
Theil derselben ist 18i6 unter der Aufsicht des Malers selbst von dem Buchhändler
Hetze! gesammelt. Diese Sammlung bi'edel einen unerschöpflichen Reichthum an
drolligen. Charaktere» und Situationen, wie wir ihn nicht leicht bei einer andern
Nation vorfinden. Freilich nicht eine Fülle wirklich origineller Figuren, wie der
britische Dichter sie erfindet, im Gegentheil haben sie alle etwas Typisches, und
auch die Situationen sind höchst einfach und gleichmäßig, aber in der Nuancinmg
derselben ist der Künstler so unerschöpflich, und weiß jedesmal dem Gegenstand
eine so neue und interessante Seite abzugewinnen, daß man die Bilder, so oft
man sie auch augesehen haben mag, nie aus der Hand legen wird, ohne eine
neue Lust daran zu finden.

Diese Bilder sind im Ganzen in Deutschland nicht so populair, als z. B.
die „beseelten Blumen" und die „beseelten Sterne," von Granville. Wir
wollen nicht verkennen, daß auch in den letztern sich sehr viel Anmuth und Grazie
entwickelt, zuweilen sogar auch eine gar nicht schlecht aussehende Coquetterie der
Komik; aber das ganze Genre ist doch ein höchst capriciöses. und nicht besonders
förderlich für den echten Kunstgeschmack.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_94440/180>, abgerufen am 22.12.2024.