Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, II. Semester. III. Band.etwas liegt, was mit unseren Begriffen vom weiblichen Wesen sich nicht leicht ver¬ Bei den Männern ist von einem derartigen Unterschied keine Rede. Dagegen Wie dem auch sei, jedem Bestreben, das von den Schauspielern selbst aus¬ etwas liegt, was mit unseren Begriffen vom weiblichen Wesen sich nicht leicht ver¬ Bei den Männern ist von einem derartigen Unterschied keine Rede. Dagegen Wie dem auch sei, jedem Bestreben, das von den Schauspielern selbst aus¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0107" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/94548"/> <p xml:id="ID_265" prev="#ID_264"> etwas liegt, was mit unseren Begriffen vom weiblichen Wesen sich nicht leicht ver¬<lb/> einigen läßt. Wir meinen jenen Ausdruck ganz wörtlich; denn wenn auch der<lb/> Darsteller nur den Zweck hat, die Absichten des Dichters auszuführen, so muß<lb/> doch das Beste, das er uns giebt, aus der eigenen Seele genommen sein. Ans<lb/> dieser Rücksicht gewöhnen wir uns daran, bei einer geistvollen Künstlerin exceptio¬<lb/> nelle sittliche Verhältnisse nicht blos zu toleriren, sondern sie bis zu einem gewissen<lb/> Grade anzuerkennen. Wie weit diese Toleranz reicht, das hängt allerdings von<lb/> den bestimmten Begriffen des einzelnen Volkes ab. Bei den Franzosen z. B.<lb/> wird die gesammte Nation eine Schauspielerin unbegreiflich finden, die sich nicht<lb/> in ihren Verhältnissen freier bewegte, als eine Dame ans der Gesellschaft; aber<lb/> sie verzeihen es einer Rachel nicht, wenn sie sich in diesen Verhältnissen dnrch<lb/> pecnniaire Motiven bestimmen läßt. — Jenes Vorurtheil ist nicht ohne Begründung.<lb/> Zwar halten wir es sür eine Absurdität, anzunehmen, daß der Dichter oder dar¬<lb/> stellende Künstler die Leidenschaften, die er schildert, selber durchgemacht haben<lb/> muß; aber es liegt zu ucche, und es ist vielleicht gerade im Interesse der sitt¬<lb/> lichen Begriffe, wenn man hier einen ganz andern sittlichen Maßstab anlegt, als<lb/> im gewöhnlichen Leben. Das Alles kann aber nur ein vorläufiger Gesichtspunkt<lb/> sein. In Deutschland sind die Ausnahmen so zahlreich geworden, daß sie fast<lb/> die Regel überbieten, und in diesem Fall besteht keine Scheidelinie mehr zwischen<lb/> der Gesellschaft und der Kunst.</p><lb/> <p xml:id="ID_266"> Bei den Männern ist von einem derartigen Unterschied keine Rede. Dagegen<lb/> ist ein anderer Gegensatz nicht leicht zu überwinden. In der Gesellschaft ist das<lb/> höchste Ziel des gebildeten Mannes, sich mit der' vollkommensten Freiheit und<lb/> Ungenirtheit, und doch instinktmäßig so zu bewegen, wie es die Sitte will. Diese<lb/> Ungenirtheit fällt dem Schauspieler schwer. In der hauptsächlichsten Thätigkeit<lb/> seines Lebens darf er, wenn er überhaupt die Gesetze der Kunst erfüllen will,<lb/> sich niemals dem Instinkt überlassen, er muß sich jeden Augenblick sorgfältig<lb/> beobachten. Er muß nothwendiger Weise überall auf den Eindruck, deu er macht,<lb/> sein Augenmerk richten, und er muß selbst in dem Applaus, der von einer viel¬<lb/> leicht gering zu schätzenden Masse ausgeht, einen wesentlichen Impuls sür seine<lb/> künstlerische Thätigkeit suchen. Diese Gewohnheit, überall eine Rolle zu spielen<lb/> und mit Bewußtsein auf den Effekt hinzuarbeiten, läßt sich dann im geselligen<lb/> Leben nicht leicht überwinden und giebt dem Umgange mit darstellenden Künstlern<lb/> etwas Exceptionelles. Auch hier sind glänzende Ausnahmen vorhanden, aber sie<lb/> sind namentlich unter den bedeutenderen Künstlern nicht häufig.</p><lb/> <p xml:id="ID_267"> Wie dem auch sei, jedem Bestreben, das von den Schauspielern selbst aus¬<lb/> geht, die Stellung ihres Standes mit den gewöhnlichen Bedingungen des Lebens<lb/> auszugleichen, verdient die ehrenvollste Anerkennung. Und diese warme edle Ge¬<lb/> sinnung läßt dem Verfasser des Buchs, welches uns zu den obigen Bemerkungen<lb/> veranlaßte, eine allgemeinere Anerkennung wünschen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0107]
etwas liegt, was mit unseren Begriffen vom weiblichen Wesen sich nicht leicht ver¬
einigen läßt. Wir meinen jenen Ausdruck ganz wörtlich; denn wenn auch der
Darsteller nur den Zweck hat, die Absichten des Dichters auszuführen, so muß
doch das Beste, das er uns giebt, aus der eigenen Seele genommen sein. Ans
dieser Rücksicht gewöhnen wir uns daran, bei einer geistvollen Künstlerin exceptio¬
nelle sittliche Verhältnisse nicht blos zu toleriren, sondern sie bis zu einem gewissen
Grade anzuerkennen. Wie weit diese Toleranz reicht, das hängt allerdings von
den bestimmten Begriffen des einzelnen Volkes ab. Bei den Franzosen z. B.
wird die gesammte Nation eine Schauspielerin unbegreiflich finden, die sich nicht
in ihren Verhältnissen freier bewegte, als eine Dame ans der Gesellschaft; aber
sie verzeihen es einer Rachel nicht, wenn sie sich in diesen Verhältnissen dnrch
pecnniaire Motiven bestimmen läßt. — Jenes Vorurtheil ist nicht ohne Begründung.
Zwar halten wir es sür eine Absurdität, anzunehmen, daß der Dichter oder dar¬
stellende Künstler die Leidenschaften, die er schildert, selber durchgemacht haben
muß; aber es liegt zu ucche, und es ist vielleicht gerade im Interesse der sitt¬
lichen Begriffe, wenn man hier einen ganz andern sittlichen Maßstab anlegt, als
im gewöhnlichen Leben. Das Alles kann aber nur ein vorläufiger Gesichtspunkt
sein. In Deutschland sind die Ausnahmen so zahlreich geworden, daß sie fast
die Regel überbieten, und in diesem Fall besteht keine Scheidelinie mehr zwischen
der Gesellschaft und der Kunst.
Bei den Männern ist von einem derartigen Unterschied keine Rede. Dagegen
ist ein anderer Gegensatz nicht leicht zu überwinden. In der Gesellschaft ist das
höchste Ziel des gebildeten Mannes, sich mit der' vollkommensten Freiheit und
Ungenirtheit, und doch instinktmäßig so zu bewegen, wie es die Sitte will. Diese
Ungenirtheit fällt dem Schauspieler schwer. In der hauptsächlichsten Thätigkeit
seines Lebens darf er, wenn er überhaupt die Gesetze der Kunst erfüllen will,
sich niemals dem Instinkt überlassen, er muß sich jeden Augenblick sorgfältig
beobachten. Er muß nothwendiger Weise überall auf den Eindruck, deu er macht,
sein Augenmerk richten, und er muß selbst in dem Applaus, der von einer viel¬
leicht gering zu schätzenden Masse ausgeht, einen wesentlichen Impuls sür seine
künstlerische Thätigkeit suchen. Diese Gewohnheit, überall eine Rolle zu spielen
und mit Bewußtsein auf den Effekt hinzuarbeiten, läßt sich dann im geselligen
Leben nicht leicht überwinden und giebt dem Umgange mit darstellenden Künstlern
etwas Exceptionelles. Auch hier sind glänzende Ausnahmen vorhanden, aber sie
sind namentlich unter den bedeutenderen Künstlern nicht häufig.
Wie dem auch sei, jedem Bestreben, das von den Schauspielern selbst aus¬
geht, die Stellung ihres Standes mit den gewöhnlichen Bedingungen des Lebens
auszugleichen, verdient die ehrenvollste Anerkennung. Und diese warme edle Ge¬
sinnung läßt dem Verfasser des Buchs, welches uns zu den obigen Bemerkungen
veranlaßte, eine allgemeinere Anerkennung wünschen.
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