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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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einzige Samen für die Zukunft." Das ist in kurzen, Zügen die Geschichte der
deutschen Mythologie.

Denn als die Deutschen anfingen, den Römern furchtbar zu werden, besaßen sie
nicht nur eine klangvolle, feingegliederte Sprache, sondern auch einen ausgebil¬
deten Götterglauben mit reichem Mythenschmuck. Als das Christenthum an die
Grenzen Deutschlands trat, lebte das Heidenthum hier noch in voller ungeschwäch¬
ter Kraft. Freie wie Unfreie standen fest und gläubig zu den alten Göttern;
das Christenthum brach gleich einem verheerenden Sturme herein, der die ganze
Saat niederschlug, aber damit auch eine wärmere Lust und ein neues Leben dem
Vaterlande schenkte.

Aus dem innersten Leben des Volkes hervorgegangen, mit ihm aufgewachsen
und groß geworden, wurzelten die alten Mythen allzu fest in ihm, als daß das
Christenthum sie ganz hätte austilgen können; das Volk konnte sie unmöglich ab¬
legen, wie ein verbrauchtes Gewand, wegwerfen, wie ein aus der Mode gekom¬
menes Geräth. Es hielt treu, wie es ist, an ihnen fest, nur nahmen sie jetzt
eine von der frühern sehr verschiedene Farbe an. Die Götter, die Helden, die
halbgöttlichen Wesen, welche in ihnen auftraten, hatten ihre alte Heiligkeit ver¬
loren, das Christenthum sah böse Dämonen in ihnen, die sich an die Stelle des
einen Gottes gedrängt hatten, um sich die Anbetung zuzueignen, welche allein
dem höchsten Herrn der Welten gebührt. Ihre Tempel und Altäre waren ge¬
stürzt, ihre heiligen Bäume theilweise unter der Axt der Apostel gefallen; mit
denselben stürzten und fielen sie vor dem siegreichen Kreuze und sanken, ihres
Ansehens, ihrer Macht fast ganz beraubt, zu gewöhnlichen Menschen herab. Aber
-- und das ist ein rührender Zug von der Anhänglichkeit des Volkes an das,
was ihm je als heilig galt -- wenn sie auch zu Menschen wurde", dann räumte
man ihnen wenigstens gern die höchste Würde ein, welche es unter den Menschen
giebt: man schmückte die der Göttlichkeit beraubten Scheitel mit dem Gold der
irdischen Königskrone und ließ der entthronten Göttin alle einst ihr heiligen Orte,
wo sie nicht mehr als Göttin, aber als eine mit hohen Zauberkräften und tiefer
Weisheit begabte Frau nach wie vor wohnte. Man ging selbst noch weiter, man
setzte den Erlöser und seine zwölf Apostel an die Stelle der alten Götter, Maria
und andere weibliche Heiligen an die der Göttinnen; man gab ihnen die verlasse¬
nen Stühle, und machte sie zu Verwaltern der alten Götterämter. Dies geschah,
wohlgemerkt, aber nur von dem Volke, und zwar unter fortwährendem Wider¬
stande der Kirche.

Auf diese Weise übersetzt, lebten die alten Mythen Anfangs in der Ver¬
änderung fort, die sie durch das Christenthum erfahren hatten, aus dem öffent¬
lichen Leben gescheucht in die heimlichen Winkel des Hauses, in die Schatten
des Waldes oder die Einsamkeit der Weide. An die Stelle der dieselben einst
singenden Priester und Sänger traten Vater und Großvater, Großmutter und


einzige Samen für die Zukunft." Das ist in kurzen, Zügen die Geschichte der
deutschen Mythologie.

Denn als die Deutschen anfingen, den Römern furchtbar zu werden, besaßen sie
nicht nur eine klangvolle, feingegliederte Sprache, sondern auch einen ausgebil¬
deten Götterglauben mit reichem Mythenschmuck. Als das Christenthum an die
Grenzen Deutschlands trat, lebte das Heidenthum hier noch in voller ungeschwäch¬
ter Kraft. Freie wie Unfreie standen fest und gläubig zu den alten Göttern;
das Christenthum brach gleich einem verheerenden Sturme herein, der die ganze
Saat niederschlug, aber damit auch eine wärmere Lust und ein neues Leben dem
Vaterlande schenkte.

Aus dem innersten Leben des Volkes hervorgegangen, mit ihm aufgewachsen
und groß geworden, wurzelten die alten Mythen allzu fest in ihm, als daß das
Christenthum sie ganz hätte austilgen können; das Volk konnte sie unmöglich ab¬
legen, wie ein verbrauchtes Gewand, wegwerfen, wie ein aus der Mode gekom¬
menes Geräth. Es hielt treu, wie es ist, an ihnen fest, nur nahmen sie jetzt
eine von der frühern sehr verschiedene Farbe an. Die Götter, die Helden, die
halbgöttlichen Wesen, welche in ihnen auftraten, hatten ihre alte Heiligkeit ver¬
loren, das Christenthum sah böse Dämonen in ihnen, die sich an die Stelle des
einen Gottes gedrängt hatten, um sich die Anbetung zuzueignen, welche allein
dem höchsten Herrn der Welten gebührt. Ihre Tempel und Altäre waren ge¬
stürzt, ihre heiligen Bäume theilweise unter der Axt der Apostel gefallen; mit
denselben stürzten und fielen sie vor dem siegreichen Kreuze und sanken, ihres
Ansehens, ihrer Macht fast ganz beraubt, zu gewöhnlichen Menschen herab. Aber
— und das ist ein rührender Zug von der Anhänglichkeit des Volkes an das,
was ihm je als heilig galt — wenn sie auch zu Menschen wurde», dann räumte
man ihnen wenigstens gern die höchste Würde ein, welche es unter den Menschen
giebt: man schmückte die der Göttlichkeit beraubten Scheitel mit dem Gold der
irdischen Königskrone und ließ der entthronten Göttin alle einst ihr heiligen Orte,
wo sie nicht mehr als Göttin, aber als eine mit hohen Zauberkräften und tiefer
Weisheit begabte Frau nach wie vor wohnte. Man ging selbst noch weiter, man
setzte den Erlöser und seine zwölf Apostel an die Stelle der alten Götter, Maria
und andere weibliche Heiligen an die der Göttinnen; man gab ihnen die verlasse¬
nen Stühle, und machte sie zu Verwaltern der alten Götterämter. Dies geschah,
wohlgemerkt, aber nur von dem Volke, und zwar unter fortwährendem Wider¬
stande der Kirche.

Auf diese Weise übersetzt, lebten die alten Mythen Anfangs in der Ver¬
änderung fort, die sie durch das Christenthum erfahren hatten, aus dem öffent¬
lichen Leben gescheucht in die heimlichen Winkel des Hauses, in die Schatten
des Waldes oder die Einsamkeit der Weide. An die Stelle der dieselben einst
singenden Priester und Sänger traten Vater und Großvater, Großmutter und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/94>, abgerufen am 24.07.2024.