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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Der Türke kennt keine Beschäftigung weder geistiger noch physischer Art.
Morgens verläßt er sein Hans, nur um in einen Han (Cafe) zu gehen; hier setzt er
sich mit gekreuzten Beinen nieder, raucht einen Tschibuk (Tabakpfeife) nach dem
andern, trinkt mit langsamen Zügen ein Dutzend Fildschaui (Kaffectäßchen) Kaffee,
und kehrt am Abende,- ohne vielleicht den Tag über auch nur ein Wörtchen ge¬
sprochen zu haben, wieder heim. So lebt er das ganze Jahr hindurch, Sommer
und Winter kauert er im Han und kennt keine Abwechselung, es sei denn, daß'
er als Spahija seine abgestumpften Nerven durch Mißhandlungen der Naja zeit¬
weise zu reizen versuchte.

Er kennt keinerlei Lebensressonrcen. Das slavische Familienleben ist bei den
Türken vollständig zerstört. Wenn sich auch die Polygamie nur bei den Reichen
und Mächtigeren sporadisch festgesetzt hat, so ist die Stellung des Weibes und der
Kinder doch nur die von Sclaven gegenüber dem Herrn. Da die Bande, welche
das patriarchalische Verhältniß bedingen, gesprengt sind, läßt sich jenes Verhältniß
zu nichts Besserem umgestalten: die Familie ist bei ihnen vollständig untergegangen.
Dadurch ist aber auch das slavische Commuuallebeu, welches auf derselben Basis
beruht, unmöglich geworden, und dem Staate seine natürliche Grundlage entzogen.
Folgerichtig herrscht unter den böhmischen Türken eine so vollständige Anarchie,
daß jeder Pascha, ja jeder Spahija in seinem Kreise außer seinem absoluten Wik-
im kein Recht noch Gesetz gelten läßt, und nach den Grundsätzen der schranken¬
losesten Gewalt herrscht, wie es die periodisch wiederkehrenden Aufstände in den
letzten Decennien klar und deutlich genug gezeigt haben. Eine Negierung ist un¬
ter solchen Verhältnissen eine unmögliche Sache; die Wesire, welche in diesen
Zeiten über Bosnien gesetzt waren, mußten dies bald einsehen, und ließen sich's
auch nicht sehr angelegen sein, das Unmögliche möglich zu machen. Sie nahmen
daher-von den Beratlije Geld und Geschenke, um wenigstens für die eigene Per¬
son zu sorgen, und wenn Nichts mehr zu erpressen war, begingen sie solche Un¬
geschicklichkeiten, daß die Pforte genöthigt wurde, sie abzurufen.

Wie sollte nun nnter solchen Verhältnissen ein Fortschritt zur Humanität
möglich sein? Das Gemüth vernichtet, der Geist umnachtet, der ganze Mensch aus
seiner eigentlichsten Lebenssphäre verdrängt! Und doch begegnet uns-hier eine
sonderbare, erfreuliche Erscheinung, die wir uicht zu erklären versuchen wollen.
Noch lebt die Poesie. Es ist, als'ob der nationale Genius, der doch sonst in
allem die mohammedanischen Serben verlassen, sich die Sphäre der Poesie vorbe¬
halten habe, um an ihr ein Verbindungsglied zwischen den entfremdeten, feind¬
lichen Brüdern zu erhalten. Die Volkspoesie der christlichen Serben, durch und
durch christlich und national-serbisch, hat die nationale und religiöse Apostasie der
Stammesbrüder überlebt, ja sogar diesen ihren Charakter bewahrt. Dies ist dar¬
aus zu erklären, daß sich bei der entsetzlichen Nüchternheit des türkischen Lebens
keine idealen Lebensanschauungen bilden konnten, so daß das Türkenthnm ans


Der Türke kennt keine Beschäftigung weder geistiger noch physischer Art.
Morgens verläßt er sein Hans, nur um in einen Han (Cafe) zu gehen; hier setzt er
sich mit gekreuzten Beinen nieder, raucht einen Tschibuk (Tabakpfeife) nach dem
andern, trinkt mit langsamen Zügen ein Dutzend Fildschaui (Kaffectäßchen) Kaffee,
und kehrt am Abende,- ohne vielleicht den Tag über auch nur ein Wörtchen ge¬
sprochen zu haben, wieder heim. So lebt er das ganze Jahr hindurch, Sommer
und Winter kauert er im Han und kennt keine Abwechselung, es sei denn, daß'
er als Spahija seine abgestumpften Nerven durch Mißhandlungen der Naja zeit¬
weise zu reizen versuchte.

Er kennt keinerlei Lebensressonrcen. Das slavische Familienleben ist bei den
Türken vollständig zerstört. Wenn sich auch die Polygamie nur bei den Reichen
und Mächtigeren sporadisch festgesetzt hat, so ist die Stellung des Weibes und der
Kinder doch nur die von Sclaven gegenüber dem Herrn. Da die Bande, welche
das patriarchalische Verhältniß bedingen, gesprengt sind, läßt sich jenes Verhältniß
zu nichts Besserem umgestalten: die Familie ist bei ihnen vollständig untergegangen.
Dadurch ist aber auch das slavische Commuuallebeu, welches auf derselben Basis
beruht, unmöglich geworden, und dem Staate seine natürliche Grundlage entzogen.
Folgerichtig herrscht unter den böhmischen Türken eine so vollständige Anarchie,
daß jeder Pascha, ja jeder Spahija in seinem Kreise außer seinem absoluten Wik-
im kein Recht noch Gesetz gelten läßt, und nach den Grundsätzen der schranken¬
losesten Gewalt herrscht, wie es die periodisch wiederkehrenden Aufstände in den
letzten Decennien klar und deutlich genug gezeigt haben. Eine Negierung ist un¬
ter solchen Verhältnissen eine unmögliche Sache; die Wesire, welche in diesen
Zeiten über Bosnien gesetzt waren, mußten dies bald einsehen, und ließen sich's
auch nicht sehr angelegen sein, das Unmögliche möglich zu machen. Sie nahmen
daher-von den Beratlije Geld und Geschenke, um wenigstens für die eigene Per¬
son zu sorgen, und wenn Nichts mehr zu erpressen war, begingen sie solche Un¬
geschicklichkeiten, daß die Pforte genöthigt wurde, sie abzurufen.

Wie sollte nun nnter solchen Verhältnissen ein Fortschritt zur Humanität
möglich sein? Das Gemüth vernichtet, der Geist umnachtet, der ganze Mensch aus
seiner eigentlichsten Lebenssphäre verdrängt! Und doch begegnet uns-hier eine
sonderbare, erfreuliche Erscheinung, die wir uicht zu erklären versuchen wollen.
Noch lebt die Poesie. Es ist, als'ob der nationale Genius, der doch sonst in
allem die mohammedanischen Serben verlassen, sich die Sphäre der Poesie vorbe¬
halten habe, um an ihr ein Verbindungsglied zwischen den entfremdeten, feind¬
lichen Brüdern zu erhalten. Die Volkspoesie der christlichen Serben, durch und
durch christlich und national-serbisch, hat die nationale und religiöse Apostasie der
Stammesbrüder überlebt, ja sogar diesen ihren Charakter bewahrt. Dies ist dar¬
aus zu erklären, daß sich bei der entsetzlichen Nüchternheit des türkischen Lebens
keine idealen Lebensanschauungen bilden konnten, so daß das Türkenthnm ans


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[0076] Der Türke kennt keine Beschäftigung weder geistiger noch physischer Art. Morgens verläßt er sein Hans, nur um in einen Han (Cafe) zu gehen; hier setzt er sich mit gekreuzten Beinen nieder, raucht einen Tschibuk (Tabakpfeife) nach dem andern, trinkt mit langsamen Zügen ein Dutzend Fildschaui (Kaffectäßchen) Kaffee, und kehrt am Abende,- ohne vielleicht den Tag über auch nur ein Wörtchen ge¬ sprochen zu haben, wieder heim. So lebt er das ganze Jahr hindurch, Sommer und Winter kauert er im Han und kennt keine Abwechselung, es sei denn, daß' er als Spahija seine abgestumpften Nerven durch Mißhandlungen der Naja zeit¬ weise zu reizen versuchte. Er kennt keinerlei Lebensressonrcen. Das slavische Familienleben ist bei den Türken vollständig zerstört. Wenn sich auch die Polygamie nur bei den Reichen und Mächtigeren sporadisch festgesetzt hat, so ist die Stellung des Weibes und der Kinder doch nur die von Sclaven gegenüber dem Herrn. Da die Bande, welche das patriarchalische Verhältniß bedingen, gesprengt sind, läßt sich jenes Verhältniß zu nichts Besserem umgestalten: die Familie ist bei ihnen vollständig untergegangen. Dadurch ist aber auch das slavische Commuuallebeu, welches auf derselben Basis beruht, unmöglich geworden, und dem Staate seine natürliche Grundlage entzogen. Folgerichtig herrscht unter den böhmischen Türken eine so vollständige Anarchie, daß jeder Pascha, ja jeder Spahija in seinem Kreise außer seinem absoluten Wik- im kein Recht noch Gesetz gelten läßt, und nach den Grundsätzen der schranken¬ losesten Gewalt herrscht, wie es die periodisch wiederkehrenden Aufstände in den letzten Decennien klar und deutlich genug gezeigt haben. Eine Negierung ist un¬ ter solchen Verhältnissen eine unmögliche Sache; die Wesire, welche in diesen Zeiten über Bosnien gesetzt waren, mußten dies bald einsehen, und ließen sich's auch nicht sehr angelegen sein, das Unmögliche möglich zu machen. Sie nahmen daher-von den Beratlije Geld und Geschenke, um wenigstens für die eigene Per¬ son zu sorgen, und wenn Nichts mehr zu erpressen war, begingen sie solche Un¬ geschicklichkeiten, daß die Pforte genöthigt wurde, sie abzurufen. Wie sollte nun nnter solchen Verhältnissen ein Fortschritt zur Humanität möglich sein? Das Gemüth vernichtet, der Geist umnachtet, der ganze Mensch aus seiner eigentlichsten Lebenssphäre verdrängt! Und doch begegnet uns-hier eine sonderbare, erfreuliche Erscheinung, die wir uicht zu erklären versuchen wollen. Noch lebt die Poesie. Es ist, als'ob der nationale Genius, der doch sonst in allem die mohammedanischen Serben verlassen, sich die Sphäre der Poesie vorbe¬ halten habe, um an ihr ein Verbindungsglied zwischen den entfremdeten, feind¬ lichen Brüdern zu erhalten. Die Volkspoesie der christlichen Serben, durch und durch christlich und national-serbisch, hat die nationale und religiöse Apostasie der Stammesbrüder überlebt, ja sogar diesen ihren Charakter bewahrt. Dies ist dar¬ aus zu erklären, daß sich bei der entsetzlichen Nüchternheit des türkischen Lebens keine idealen Lebensanschauungen bilden konnten, so daß das Türkenthnm ans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/76>, abgerufen am 24.07.2024.