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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Geistes irgend einen oberflächlichen Eindruck mitnehmen, sind das Schwächste an
der Zeit; in denjenigen Regionen dagegen, wo die Individualität sich an das
Werk hingiebt und sich selbst verläugnet, um das Ganze zu fördern, blüht das
deutsche Leben noch immer so hoffnungsreich fort, daß wir an unsrer Zukunft
nicht verzweifeln dürfen. Das Heilmittel, welches Gutzkow vorschlägt, ist das
schlechteste von der Welt, weil es gerade die schlechteste Seite unsres öffentlichen
Lebens begünstigt, das egoistische, eitle Hervorheben der Individualität über die
Sache.- Der von ihm vorgeschlagene Bund der Ritter vom Geist ist eine, Ver¬
bindung interessanter Persönlichkeiten, die, ganz abgesehen von ihren bestimmten
Zwecken, sich gegenseitig tragen und fördern sollen. Er hat ganz die Natur einer
Coterie, wie wir dergleichen in der elenden romantischen und jungdeutschen Periode
unsrer Literatur über Gebühr wirklich erlebt haben, nur daß dieser Assecuranz-
verein für strebsame Gemüther sich durch den Schein einer allgemeinen kosmopo¬
litischen Richtung in ein leeres symbolisches Getändel verliert. Was Gutzkow
über die Organisation des Bundes vorschlägt, ist so kleinlich und abgeschmackt,
daß er heute bei ruhiger Ueberlegung vielleicht selbst darüber erstaunen wird.

Daß bei der Zerfahrenheit unsrer Verhältnisse der Einzelne das tiefe Be¬
dürfniß fühlt, sich einem Ganzen anzuschließen, in dem er sich geltend machen und
sich weiter bilden kauu, liegt in der Natur der Sache; allein dieses Ganze muß
von der Art sein, daß es durch strenge Zucht die Willkür des Einzelnen zügelt,
nicht sie begünstigt. Fast in jedem praktischen und gelehrten Berufszweig finden
sich wenigstens schon Anlagen zu dergleichen Organisationen, in denen der Ein¬
zelne durch Hingebung an den objectiven Zweck den Egoismus und die Willkür
in sich selbst bekämpfen kann. Abgesehen davon, haben wir die großen politischen
Parteien. In ihnen kann der Einzelne lernen, zuerst einer großen Sache zu
dienen, ehe er in diesem Dienst auch sich selber zur Geltung bringt. Durch sie
kommt in unsre zerfahrenen Wünsche Gestalt und Maß, und was in ihnen noch
von Einseitigkeit vorhanden sein mag, wird theils durch den gegenseitig befruch-
tenden Kampf, theils durch die Macht der Thatsachen corrigirt. Wer nicht im
Stande ist, sich einer solchen Partei, die er wenigstens im Großen und Ganzen
billigt, anzuschließen, zerfällt in die zusammenhanglosesten Einfälle, und ist am
abhängigsten von den zufälligen Umständen, wenn er am meisten aus eigenen
Füßen zu stehen glaubt. Der Glaube, dessen Mangel Gujzkow so lebhaft fühlt,
und die damit verbundene Freude am Leben wird nicht durch trunkene Phantasien,
nicht durch künstliche Exaltationen hervorgebracht, wie sie die alten und die neue"
Romantiker in ihren Evangelien anpreisen; nicht durch geheime Verbindungen
geistreicher, aber confuser Menschen, die zu den Zeiten der Freimaurer, der un¬
sichtbaren Loge, allenfalls des Wilhelm Meister denkbar waren, aber nicht mehr
in unsrer Zeit, wo nur der klare, bestimmte und auf einen erreichbaren Zweck
gerichtete Wille Geltung findet: -- souderu durch den entschiedenen Kampf gegen


Geistes irgend einen oberflächlichen Eindruck mitnehmen, sind das Schwächste an
der Zeit; in denjenigen Regionen dagegen, wo die Individualität sich an das
Werk hingiebt und sich selbst verläugnet, um das Ganze zu fördern, blüht das
deutsche Leben noch immer so hoffnungsreich fort, daß wir an unsrer Zukunft
nicht verzweifeln dürfen. Das Heilmittel, welches Gutzkow vorschlägt, ist das
schlechteste von der Welt, weil es gerade die schlechteste Seite unsres öffentlichen
Lebens begünstigt, das egoistische, eitle Hervorheben der Individualität über die
Sache.- Der von ihm vorgeschlagene Bund der Ritter vom Geist ist eine, Ver¬
bindung interessanter Persönlichkeiten, die, ganz abgesehen von ihren bestimmten
Zwecken, sich gegenseitig tragen und fördern sollen. Er hat ganz die Natur einer
Coterie, wie wir dergleichen in der elenden romantischen und jungdeutschen Periode
unsrer Literatur über Gebühr wirklich erlebt haben, nur daß dieser Assecuranz-
verein für strebsame Gemüther sich durch den Schein einer allgemeinen kosmopo¬
litischen Richtung in ein leeres symbolisches Getändel verliert. Was Gutzkow
über die Organisation des Bundes vorschlägt, ist so kleinlich und abgeschmackt,
daß er heute bei ruhiger Ueberlegung vielleicht selbst darüber erstaunen wird.

Daß bei der Zerfahrenheit unsrer Verhältnisse der Einzelne das tiefe Be¬
dürfniß fühlt, sich einem Ganzen anzuschließen, in dem er sich geltend machen und
sich weiter bilden kauu, liegt in der Natur der Sache; allein dieses Ganze muß
von der Art sein, daß es durch strenge Zucht die Willkür des Einzelnen zügelt,
nicht sie begünstigt. Fast in jedem praktischen und gelehrten Berufszweig finden
sich wenigstens schon Anlagen zu dergleichen Organisationen, in denen der Ein¬
zelne durch Hingebung an den objectiven Zweck den Egoismus und die Willkür
in sich selbst bekämpfen kann. Abgesehen davon, haben wir die großen politischen
Parteien. In ihnen kann der Einzelne lernen, zuerst einer großen Sache zu
dienen, ehe er in diesem Dienst auch sich selber zur Geltung bringt. Durch sie
kommt in unsre zerfahrenen Wünsche Gestalt und Maß, und was in ihnen noch
von Einseitigkeit vorhanden sein mag, wird theils durch den gegenseitig befruch-
tenden Kampf, theils durch die Macht der Thatsachen corrigirt. Wer nicht im
Stande ist, sich einer solchen Partei, die er wenigstens im Großen und Ganzen
billigt, anzuschließen, zerfällt in die zusammenhanglosesten Einfälle, und ist am
abhängigsten von den zufälligen Umständen, wenn er am meisten aus eigenen
Füßen zu stehen glaubt. Der Glaube, dessen Mangel Gujzkow so lebhaft fühlt,
und die damit verbundene Freude am Leben wird nicht durch trunkene Phantasien,
nicht durch künstliche Exaltationen hervorgebracht, wie sie die alten und die neue»
Romantiker in ihren Evangelien anpreisen; nicht durch geheime Verbindungen
geistreicher, aber confuser Menschen, die zu den Zeiten der Freimaurer, der un¬
sichtbaren Loge, allenfalls des Wilhelm Meister denkbar waren, aber nicht mehr
in unsrer Zeit, wo nur der klare, bestimmte und auf einen erreichbaren Zweck
gerichtete Wille Geltung findet: — souderu durch den entschiedenen Kampf gegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/72>, abgerufen am 24.07.2024.