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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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klärnng war eine Lüge; er-hat jene drei Gewichte nicht in seinem Wagen ge-
sunde", sondern ans einem Platz im Walde, und mir ganz entfernte, zwei¬
felhafte Jndicien haben ihn zu der Vermuthung gebracht, daß es möglicher
Weise Hackert sein könne, der sie dort verloren habe. Statt nnn als Jurist
über die unvermuthete Wichtigkeit seines Einfalls zu erschrecken und ihn sofort
zurückzunehmen, schweigt er ans Eitelkeit, und läßt also die Anklage auf Grund
einer falschen Aussage zu. Er findet später, daß Hackert im Grnnde ein inter¬
essanter und bemitleidenswürdiger Mensch ist. Er geht also zu Lasally, um ihn
zur Zurücknahme seiner Anklage zu veranlassen; er findet diesen aber in so ver¬
drießlicher und gereizter Stimmung, daß er sich gar nicht weiter darauf einläßt,
sondern sofort zu anderen Zerstreuungen übergeht.

Zu verwundern ist unter diesen Umständen nicht, wenn isgch solchen und
ähnlichen Heldenthaten der Dichter von seinem Liebling sagt: "Er würde wie in
einem Chaos der unleidlichsten und leersten Eindrücke nmhergetanmelt sein",
wenn nicht -- die Erinnerung an den Kuß eines hübschen Mädchens ihm das
Gefühl der Sicherheit gegeben hätte. Dieser durchaus nicht ironisch gemeinte
Zusatz ist um so charakteristischer, da Daukmar keineswegs als ein unbesonnener,
leichtsinniger Naturmensch auftritt, sondern als ein, durchaus reflectirter Charakter,
unermüdlich, für jede Frage immer neue Gesichtspunkte aufzufinden, argwöhnisch
gegen sich und Andere, und für jeden beliebigen Fall mit allgemeinen Principien
ausgerüstet. Es ist dieselbe Figur, die uns in den meisten Romanen und Dra¬
men Gutzkow's entgegentritt, z. B. als Ottfried, oder als "Schlachtenmaler" in
Blasedow, eine Mischung vou Blasirtheit und Idealismus, im höchsten Grade
bestimmbar und doch bildungsunfähig, weil seine Entwickelung nach keinem Gesetz
erfolgt, vor übergroßer Genialität ungeschickt zu jeder Handlung, übervoll von
Tendenzen und doch niemals an eine Idee gebunden, so daß er immer außerhalb
des Schusses bleibt, und daß kein Schicksal ihn tragisch erschüttern kann. Ein
solcher Charakter ist am unfähigsten zu der Rolle, die ihm der Dichter gern über¬
trägt, zum Führer einer Revolution, zum Propheten einer neuen historischen
Entwickelung, eben so unfähig, wie sein Erzeuger.*)

Mit Dankmar zusammengestellt treten die übrigen idealen Charaktere ent¬
schieden in den Hintergrund. Sie sind eigentlich nur Tendenzfiguren, die ver¬
schiedenen Nuancen der srcisiunia.er politischen Ideen auszudrücken. Gutzkow ver¬
säumt es zwar nicht, von jedem von ihnen irgend einen charakteristischen anekdo-



Daß ein solcher strebsamer Charakter auch durch verschiedene Liebesverhältnisse gehen .
muß, um sich vollständig zu klare", gehört schou zum Mechanismus des Romans; sür unsre"
Roman aber ist es charakteristisch, daß wenigstens das eine dieser Verhältnisse, mit dem treu-
binidlcrischen Fräulein vou Flottwitz, ganz ohne Pointe verläuft; mau erfährt nicht, ob er
mit ihr nur tändelt, oder sie wirklich liebt, oder sie geradezu verhöhnt, und darüber wenig¬
stens dürfen wir'doch mit Recht Auskunft vom Dichter verlangen.
Mreuzbotcn. II. 8

klärnng war eine Lüge; er-hat jene drei Gewichte nicht in seinem Wagen ge-
sunde», sondern ans einem Platz im Walde, und mir ganz entfernte, zwei¬
felhafte Jndicien haben ihn zu der Vermuthung gebracht, daß es möglicher
Weise Hackert sein könne, der sie dort verloren habe. Statt nnn als Jurist
über die unvermuthete Wichtigkeit seines Einfalls zu erschrecken und ihn sofort
zurückzunehmen, schweigt er ans Eitelkeit, und läßt also die Anklage auf Grund
einer falschen Aussage zu. Er findet später, daß Hackert im Grnnde ein inter¬
essanter und bemitleidenswürdiger Mensch ist. Er geht also zu Lasally, um ihn
zur Zurücknahme seiner Anklage zu veranlassen; er findet diesen aber in so ver¬
drießlicher und gereizter Stimmung, daß er sich gar nicht weiter darauf einläßt,
sondern sofort zu anderen Zerstreuungen übergeht.

Zu verwundern ist unter diesen Umständen nicht, wenn isgch solchen und
ähnlichen Heldenthaten der Dichter von seinem Liebling sagt: „Er würde wie in
einem Chaos der unleidlichsten und leersten Eindrücke nmhergetanmelt sein",
wenn nicht — die Erinnerung an den Kuß eines hübschen Mädchens ihm das
Gefühl der Sicherheit gegeben hätte. Dieser durchaus nicht ironisch gemeinte
Zusatz ist um so charakteristischer, da Daukmar keineswegs als ein unbesonnener,
leichtsinniger Naturmensch auftritt, sondern als ein, durchaus reflectirter Charakter,
unermüdlich, für jede Frage immer neue Gesichtspunkte aufzufinden, argwöhnisch
gegen sich und Andere, und für jeden beliebigen Fall mit allgemeinen Principien
ausgerüstet. Es ist dieselbe Figur, die uns in den meisten Romanen und Dra¬
men Gutzkow's entgegentritt, z. B. als Ottfried, oder als „Schlachtenmaler" in
Blasedow, eine Mischung vou Blasirtheit und Idealismus, im höchsten Grade
bestimmbar und doch bildungsunfähig, weil seine Entwickelung nach keinem Gesetz
erfolgt, vor übergroßer Genialität ungeschickt zu jeder Handlung, übervoll von
Tendenzen und doch niemals an eine Idee gebunden, so daß er immer außerhalb
des Schusses bleibt, und daß kein Schicksal ihn tragisch erschüttern kann. Ein
solcher Charakter ist am unfähigsten zu der Rolle, die ihm der Dichter gern über¬
trägt, zum Führer einer Revolution, zum Propheten einer neuen historischen
Entwickelung, eben so unfähig, wie sein Erzeuger.*)

Mit Dankmar zusammengestellt treten die übrigen idealen Charaktere ent¬
schieden in den Hintergrund. Sie sind eigentlich nur Tendenzfiguren, die ver¬
schiedenen Nuancen der srcisiunia.er politischen Ideen auszudrücken. Gutzkow ver¬
säumt es zwar nicht, von jedem von ihnen irgend einen charakteristischen anekdo-



Daß ein solcher strebsamer Charakter auch durch verschiedene Liebesverhältnisse gehen .
muß, um sich vollständig zu klare», gehört schou zum Mechanismus des Romans; sür unsre»
Roman aber ist es charakteristisch, daß wenigstens das eine dieser Verhältnisse, mit dem treu-
binidlcrischen Fräulein vou Flottwitz, ganz ohne Pointe verläuft; mau erfährt nicht, ob er
mit ihr nur tändelt, oder sie wirklich liebt, oder sie geradezu verhöhnt, und darüber wenig¬
stens dürfen wir'doch mit Recht Auskunft vom Dichter verlangen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/67>, abgerufen am 24.07.2024.