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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Wesen des Charakters wie dem Wesen der Situation widersprechen. Wenn man
sich in wilden Verwirrungen taumeln will, so muß man das Talent und das un-
genirte Selbstvertrauen eines Dumas besitzen, dem es nicht darauf ankommt, wo
es nöthig ist, auch ein Wunder zu thun.

Von diesem pragmatischen Zersetzungsproceß ist das beste Beispiel der¬
jenige Charakter, der als das eigentliche Ideal des Romans aufgefaßt werden
muß, Dankmar Wildungen, der Stifter des Ordens vom Geist. Von
der Konsequenz in der Ausführung seiner Unternehmungen und von seinem ge¬
setzlichen Sinn haben wir schon gesprochen; hier ein neuer Zug. Er hat mit
seinem Bruder eine Zusammenkunft. Zu dieser ist er auf einem gemietheten
Pferde geritten. Ein dringendes Geschäft ruft ihn nach einer andern Seite ab;
er möchte das Pferd gern los sein. Hackert erbietet sich, es zurückzubringen.
Dankmar geht zuerst darauf ein, dann aber besinnt er sich, daß er mit einem
Vagabunden zu thun hat. Hackert, beleidigt durch das Mißtrauen in seine Ehr¬
lichkeit, wirft ihm als Pfand ein Päckchen von hundert Thalern zu und reitet ab.
Dankmar, der zu seiner Weiterreise Geld braucht, nimmt keinen Anstand, zwanzig
davon in seine Tasche zu stecken und so bei dem Vagabunden eine unfreiwillige
Anleihe zu machen. Hackert kehrt zurück; er hat das Pferd abgeliefert und bittet
um Rückgabe seines Geldes. Dankmar aber, der nicht eingestehen will, daß er
einen Theil davon in die Tasche gesteckt, weiß ihn dnrch eine geschickte Manipu¬
lation zum Schweigen zu bringen. Nachher fällt ihm alle Augenblicke wieder ein,
Hackert könnte mit dem Pferde doch durchgegangen sein, und er überhäuft ihn,
wo er ihn nur sieht, mit Vorwürfen und Schimpfwörtern, ohne allen Grund,
denn das Pferd ist wirklich abgeliefert. -- Was sollen nun diese Geschichten, die
auf die Handlung selbst keinen Einfluß ausüben, und die doch ans den Charakter
des Helden ein schlechtes Licht werfen müssen? Der geheime Grund ist folgender.
Gutzkow möchte seinen Helden gern nicht blos als bedeutend und geistreich, son¬
dern anch als aristokratisch, als nobel, als gentlemcmlike darstellen, und dazu
gehört nach seinen Begriffen Rücksichtslosigkeit und hochfahrendes Wesen gegen
das gemeine Volk, auch wenn man noch so sehr Demokrat ist. -- O gute De¬
mokratie, was hast du für Propheten! -- Aber es kommt noch schlimmer. --
Dankmar spricht mit dem Stallmeister Lasally über Hackert, von dem der Letztere
behauptet, er sei feige, und würde nicht wagen, auf Jemand zu schießen. Um
einen theatralischen Effect hervorzubringen, zieht Dankmar drei Körperchen aus
seiner Tasche, die er für Spitzkugelu hält, und sagt: "Diese hier hat Hackert in
meinem Wagen zurückgelassen". Lasally besieht sie und ruft freudig aus: "Die
sind also von Hackert? Nun habe ich den Spitzbuben. Es sind keine Spitz¬
kugeln, sondern Uhrgewichte, wie sich deren einige in den Ohren meiner Pferde
gefunden haben, die darüber toll geworden sind. Ich werde ihn also jetzt als
Thäter denunciren, und Sie werden mir als Zeuge dienen". -- Dankmar's Er-


Wesen des Charakters wie dem Wesen der Situation widersprechen. Wenn man
sich in wilden Verwirrungen taumeln will, so muß man das Talent und das un-
genirte Selbstvertrauen eines Dumas besitzen, dem es nicht darauf ankommt, wo
es nöthig ist, auch ein Wunder zu thun.

Von diesem pragmatischen Zersetzungsproceß ist das beste Beispiel der¬
jenige Charakter, der als das eigentliche Ideal des Romans aufgefaßt werden
muß, Dankmar Wildungen, der Stifter des Ordens vom Geist. Von
der Konsequenz in der Ausführung seiner Unternehmungen und von seinem ge¬
setzlichen Sinn haben wir schon gesprochen; hier ein neuer Zug. Er hat mit
seinem Bruder eine Zusammenkunft. Zu dieser ist er auf einem gemietheten
Pferde geritten. Ein dringendes Geschäft ruft ihn nach einer andern Seite ab;
er möchte das Pferd gern los sein. Hackert erbietet sich, es zurückzubringen.
Dankmar geht zuerst darauf ein, dann aber besinnt er sich, daß er mit einem
Vagabunden zu thun hat. Hackert, beleidigt durch das Mißtrauen in seine Ehr¬
lichkeit, wirft ihm als Pfand ein Päckchen von hundert Thalern zu und reitet ab.
Dankmar, der zu seiner Weiterreise Geld braucht, nimmt keinen Anstand, zwanzig
davon in seine Tasche zu stecken und so bei dem Vagabunden eine unfreiwillige
Anleihe zu machen. Hackert kehrt zurück; er hat das Pferd abgeliefert und bittet
um Rückgabe seines Geldes. Dankmar aber, der nicht eingestehen will, daß er
einen Theil davon in die Tasche gesteckt, weiß ihn dnrch eine geschickte Manipu¬
lation zum Schweigen zu bringen. Nachher fällt ihm alle Augenblicke wieder ein,
Hackert könnte mit dem Pferde doch durchgegangen sein, und er überhäuft ihn,
wo er ihn nur sieht, mit Vorwürfen und Schimpfwörtern, ohne allen Grund,
denn das Pferd ist wirklich abgeliefert. — Was sollen nun diese Geschichten, die
auf die Handlung selbst keinen Einfluß ausüben, und die doch ans den Charakter
des Helden ein schlechtes Licht werfen müssen? Der geheime Grund ist folgender.
Gutzkow möchte seinen Helden gern nicht blos als bedeutend und geistreich, son¬
dern anch als aristokratisch, als nobel, als gentlemcmlike darstellen, und dazu
gehört nach seinen Begriffen Rücksichtslosigkeit und hochfahrendes Wesen gegen
das gemeine Volk, auch wenn man noch so sehr Demokrat ist. — O gute De¬
mokratie, was hast du für Propheten! — Aber es kommt noch schlimmer. —
Dankmar spricht mit dem Stallmeister Lasally über Hackert, von dem der Letztere
behauptet, er sei feige, und würde nicht wagen, auf Jemand zu schießen. Um
einen theatralischen Effect hervorzubringen, zieht Dankmar drei Körperchen aus
seiner Tasche, die er für Spitzkugelu hält, und sagt: „Diese hier hat Hackert in
meinem Wagen zurückgelassen". Lasally besieht sie und ruft freudig aus: „Die
sind also von Hackert? Nun habe ich den Spitzbuben. Es sind keine Spitz¬
kugeln, sondern Uhrgewichte, wie sich deren einige in den Ohren meiner Pferde
gefunden haben, die darüber toll geworden sind. Ich werde ihn also jetzt als
Thäter denunciren, und Sie werden mir als Zeuge dienen". — Dankmar's Er-


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[0066] Wesen des Charakters wie dem Wesen der Situation widersprechen. Wenn man sich in wilden Verwirrungen taumeln will, so muß man das Talent und das un- genirte Selbstvertrauen eines Dumas besitzen, dem es nicht darauf ankommt, wo es nöthig ist, auch ein Wunder zu thun. Von diesem pragmatischen Zersetzungsproceß ist das beste Beispiel der¬ jenige Charakter, der als das eigentliche Ideal des Romans aufgefaßt werden muß, Dankmar Wildungen, der Stifter des Ordens vom Geist. Von der Konsequenz in der Ausführung seiner Unternehmungen und von seinem ge¬ setzlichen Sinn haben wir schon gesprochen; hier ein neuer Zug. Er hat mit seinem Bruder eine Zusammenkunft. Zu dieser ist er auf einem gemietheten Pferde geritten. Ein dringendes Geschäft ruft ihn nach einer andern Seite ab; er möchte das Pferd gern los sein. Hackert erbietet sich, es zurückzubringen. Dankmar geht zuerst darauf ein, dann aber besinnt er sich, daß er mit einem Vagabunden zu thun hat. Hackert, beleidigt durch das Mißtrauen in seine Ehr¬ lichkeit, wirft ihm als Pfand ein Päckchen von hundert Thalern zu und reitet ab. Dankmar, der zu seiner Weiterreise Geld braucht, nimmt keinen Anstand, zwanzig davon in seine Tasche zu stecken und so bei dem Vagabunden eine unfreiwillige Anleihe zu machen. Hackert kehrt zurück; er hat das Pferd abgeliefert und bittet um Rückgabe seines Geldes. Dankmar aber, der nicht eingestehen will, daß er einen Theil davon in die Tasche gesteckt, weiß ihn dnrch eine geschickte Manipu¬ lation zum Schweigen zu bringen. Nachher fällt ihm alle Augenblicke wieder ein, Hackert könnte mit dem Pferde doch durchgegangen sein, und er überhäuft ihn, wo er ihn nur sieht, mit Vorwürfen und Schimpfwörtern, ohne allen Grund, denn das Pferd ist wirklich abgeliefert. — Was sollen nun diese Geschichten, die auf die Handlung selbst keinen Einfluß ausüben, und die doch ans den Charakter des Helden ein schlechtes Licht werfen müssen? Der geheime Grund ist folgender. Gutzkow möchte seinen Helden gern nicht blos als bedeutend und geistreich, son¬ dern anch als aristokratisch, als nobel, als gentlemcmlike darstellen, und dazu gehört nach seinen Begriffen Rücksichtslosigkeit und hochfahrendes Wesen gegen das gemeine Volk, auch wenn man noch so sehr Demokrat ist. — O gute De¬ mokratie, was hast du für Propheten! — Aber es kommt noch schlimmer. — Dankmar spricht mit dem Stallmeister Lasally über Hackert, von dem der Letztere behauptet, er sei feige, und würde nicht wagen, auf Jemand zu schießen. Um einen theatralischen Effect hervorzubringen, zieht Dankmar drei Körperchen aus seiner Tasche, die er für Spitzkugelu hält, und sagt: „Diese hier hat Hackert in meinem Wagen zurückgelassen". Lasally besieht sie und ruft freudig aus: „Die sind also von Hackert? Nun habe ich den Spitzbuben. Es sind keine Spitz¬ kugeln, sondern Uhrgewichte, wie sich deren einige in den Ohren meiner Pferde gefunden haben, die darüber toll geworden sind. Ich werde ihn also jetzt als Thäter denunciren, und Sie werden mir als Zeuge dienen". — Dankmar's Er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/66>, abgerufen am 24.07.2024.