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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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Derselbe Formenreichthum charakterisirt auch seine größeren Schriften. Die
eine derselben, Hyperion, (1839) ein mystisches Gedicht, ist uns unbekannt;
eben so ein Drama: tds ZxanisK Stuclent (1843). Der Roman Kava-
nagh enthält trotz seines geringen Umfangs so ziemlich alle Elemente sei¬
nes unruhigen und unbeständigen Schaffens. Er ist ungefähr in der losen
Weise Sterne's geschrieben. Von einer Ausführung der Geschichte ist gar
nicht die Rede; es treten eine Reihe interessanter Originale aus, von denen uns
einzelne auffallende Züge berichtet werden. Kavauagh selbst ist ein Prediger, der
im Schooß des Katholicismus geboren und erzogen, durch Nachdenken und
Studien sich von der UnHaltbarkeit dieser Lehre überzeugt, und zum Protestantis¬
mus übergibt. Er verliebt sich in eine junge Dame seiner Gemeinde, heirathet
sie und macht mit ihr eine dreijährige Tour durch Europa, während die Freundin
derselben, die ihn heimlich liebt, an der Schwindsucht stirbt. Das Alles ist mehr
angedeutet, als ausgeführt, obgleich einzelne Züge von den beiden Mädchen mit
ansprechender Sinnigkeit dargestellt werden. Breiter ausgeführt, als Kavanagh,
ist der Schulmeister Churchill, ein unfertiger Dichter, der sich sein Leben lang
mit dem Gedanken trägt, einen Roman zu schreiben, aber niemals dazu kommt.
Mittlerweile beschäftigt er sich mit ziemlich seltsamen Studien, z. B. mit dem
Sanskrit, aus dem er lernt, die arithmetischen Stunden durch Mystik und Poesie
zu würzen. Ueberhaupt ist in dein Buch eine Gelehrsamkeit angebracht, die durch
ihr schweres Gewicht deu dünnen Romanstoff ganz zu Boden drückt. Alle mög¬
liche Kenntnisse der Philologie, der Geschichte und der Aesthetik müssen herhalten,
und der Dichter zeigt, daß er in allen wohl zu Hause ist, zu sehr zu Hause,
um den anspruchslosen, naiven Sterblichen, die er doch in seinen Roman verweben
muß, die gehörige Aufmerksamkeit zu scheuten. Sie kommen und gehen, werden
geboren und sterben, ohne daß man ein genaueres Bild von ihnen gewinnt,
während die theoretischen Excurse mit einer fast unpoetischen Gründlichkeit zu Ende
geführt werden. -- Anklänge an Jean Paul sind vorherrschend, und namentlich
in der Art der Ideenassociation erinnert Longfellow fast zu sehr an diesen Dichter.
Aber auch Goethe mit seiner Verallgemeinerung individueller Gesichtspunkte tref¬
fen wir wieder an, und die folgende Stelle ist sast eben so Hoffmann wie Jean
Paul: "Churchill hatte eiuen sonderbaren Traum, er glaubte in der Schule zu
sein, wo er seinen Schülern Lateinisch lehrte. Plötzlich fingen alle Genitive der
ersten Declination an, ihm Gesichter zu schneiden und unbändig zu lachen, und
als er sie zu ergreifen versuchte/sprangen sie in den Ablativ hinunter, und der
Circumflex nahm die Form eines großen Schnurrbarts an; dann verwandelte sich
die kleine Dorfschule in ein großes und endloses Schulhaus der Welt, das durch
alle Geschlechter der kommenden Zeit Schulbank nach Schulbank ausstreckte, und
auf allen Bänken saßen alte und junge Männer, die seinen Roman, der jetzt in
seinem Traume fertig war, lasen und abschrieben und lächelten und ihn einer dem


Derselbe Formenreichthum charakterisirt auch seine größeren Schriften. Die
eine derselben, Hyperion, (1839) ein mystisches Gedicht, ist uns unbekannt;
eben so ein Drama: tds ZxanisK Stuclent (1843). Der Roman Kava-
nagh enthält trotz seines geringen Umfangs so ziemlich alle Elemente sei¬
nes unruhigen und unbeständigen Schaffens. Er ist ungefähr in der losen
Weise Sterne's geschrieben. Von einer Ausführung der Geschichte ist gar
nicht die Rede; es treten eine Reihe interessanter Originale aus, von denen uns
einzelne auffallende Züge berichtet werden. Kavauagh selbst ist ein Prediger, der
im Schooß des Katholicismus geboren und erzogen, durch Nachdenken und
Studien sich von der UnHaltbarkeit dieser Lehre überzeugt, und zum Protestantis¬
mus übergibt. Er verliebt sich in eine junge Dame seiner Gemeinde, heirathet
sie und macht mit ihr eine dreijährige Tour durch Europa, während die Freundin
derselben, die ihn heimlich liebt, an der Schwindsucht stirbt. Das Alles ist mehr
angedeutet, als ausgeführt, obgleich einzelne Züge von den beiden Mädchen mit
ansprechender Sinnigkeit dargestellt werden. Breiter ausgeführt, als Kavanagh,
ist der Schulmeister Churchill, ein unfertiger Dichter, der sich sein Leben lang
mit dem Gedanken trägt, einen Roman zu schreiben, aber niemals dazu kommt.
Mittlerweile beschäftigt er sich mit ziemlich seltsamen Studien, z. B. mit dem
Sanskrit, aus dem er lernt, die arithmetischen Stunden durch Mystik und Poesie
zu würzen. Ueberhaupt ist in dein Buch eine Gelehrsamkeit angebracht, die durch
ihr schweres Gewicht deu dünnen Romanstoff ganz zu Boden drückt. Alle mög¬
liche Kenntnisse der Philologie, der Geschichte und der Aesthetik müssen herhalten,
und der Dichter zeigt, daß er in allen wohl zu Hause ist, zu sehr zu Hause,
um den anspruchslosen, naiven Sterblichen, die er doch in seinen Roman verweben
muß, die gehörige Aufmerksamkeit zu scheuten. Sie kommen und gehen, werden
geboren und sterben, ohne daß man ein genaueres Bild von ihnen gewinnt,
während die theoretischen Excurse mit einer fast unpoetischen Gründlichkeit zu Ende
geführt werden. — Anklänge an Jean Paul sind vorherrschend, und namentlich
in der Art der Ideenassociation erinnert Longfellow fast zu sehr an diesen Dichter.
Aber auch Goethe mit seiner Verallgemeinerung individueller Gesichtspunkte tref¬
fen wir wieder an, und die folgende Stelle ist sast eben so Hoffmann wie Jean
Paul: „Churchill hatte eiuen sonderbaren Traum, er glaubte in der Schule zu
sein, wo er seinen Schülern Lateinisch lehrte. Plötzlich fingen alle Genitive der
ersten Declination an, ihm Gesichter zu schneiden und unbändig zu lachen, und
als er sie zu ergreifen versuchte/sprangen sie in den Ablativ hinunter, und der
Circumflex nahm die Form eines großen Schnurrbarts an; dann verwandelte sich
die kleine Dorfschule in ein großes und endloses Schulhaus der Welt, das durch
alle Geschlechter der kommenden Zeit Schulbank nach Schulbank ausstreckte, und
auf allen Bänken saßen alte und junge Männer, die seinen Roman, der jetzt in
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/276>, abgerufen am 24.07.2024.