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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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zw'el entgegengesehen Gesichtspunkten zu betrachten, und, diesen Gesichtspunkten
entsprechend, gleichzeitig die entgegengesetzten Gefühle im Herzen zu tragen.
Früher hatte man seine specielle Idee mit gläubigem Pathos der Welt gepredigt,
und die Ironie den Gegnern überlassen, oder umgekehrt; jetzt fühlte man sich
verpflichtet, das ^eigene Pathos zu'ironisiren und sür die Ideen, die mau eigent-
lich haßte und verabscheute, eine gewisse empfindelude Sympathie in sich zu er¬
wecken. Ans diesem Durcheinander von Gesichtspunkten ging der sogenannte
Weltschmerz hervor und jene gebrochenen Charaktere, die niemals wissen, was
sie wollen, weil sie sich nie zu einer Wahl entschließen können. Habe ich das
Zeitalter der Restauration als die Unbefangenheit in der Befangenheit charakteri-
sirt, so möge man mir für das- jungdeutsche Zeitalter die entgegengesetzte Bezeich¬
nung zu Gute halten: die Befangenheit in der Unbefangenheit.

Ich darf wol kam" hinzusetzen, daß ich unter dem Collectivbegriff "junges
Deutschland" keineswegs blos die bekannten Schriftsteller verstehe, die man ge¬
wöhnlich unter dieser Kategorie zusammenfaßt. Es ist vielmehr der Charakter
der deutschen Literatur seit der Julirevolution überhaupt, und bei den meisten
Schriftstellern, die beiden Perioden angehören, kann man einen bestimmten Wende¬
punkt nachweisen, wo sie aus der einen Richtung in die andere übertraten.

Immermann ist ein sehr charakteristisches Beispiel für diese Anwendung.
Seine früheren Dichtungen gehören ganz entschieden dein Charakter der Restaura¬
tionsperiode an; mit "Alexis" und "Merlin" steht er auf der Scheidegrenze, in
den späteren Romanen ist er vollkommen jnngdeutsch.

Seine natürliche Anlage machte ihn vorzugsweise dazu geeignet, diesen Ein¬
flüssen zu verfallen. Ein gesunder tüchtiger Verstand und dabei eine vollständige
Unprvductivitat in der Dialektik; eine an Starrköpfigkeit grenzende Sprödigkeit
und doch der unausgesetzte lebhafte Trieb, sich von allen Seiten das Schöne
und Gute anzueignen; eine unverdrossene Arbeitskraft und ein vollständiger Mangel
an jener angebornen Poesie, die allein beim Schaffen Frende bringt.

Dieser Mangel an Poesie zeigt sich namentlich in seinen lyrischen Gedichten,
die in einer sehr großen Zahl vorhanden sind. Beim Drama und beim Roman
kann ein ernster Wille, consequentes Streben, eine sichere Bildung und techni¬
scher Verstand wenigstens bis zu einem gewissen Grad diese schönste Gabe der
Götter ersetzen, die man nur als Geschenk erwirbt. In dem heitern, flüchtigen
Spiel der Lyrik ist das unmöglich. Immermann's lyrische Gedichte sind fast
ausschließlich die nackte, nüchterne Prosa, in der zuweilen die grenzenloseste
Abgeschmacktheit die Stelle der Erhebung vertreten muß, bis zum Erschrecken
unschön in der Form und dürftig im Inhalt. Außerdem findet sich bei ihm,
wie bei jedem Lyriker aus Reflexion, eine unbewußte Nachbildung überlieferter
Formen, die nicht selten ans Komische streift. -- Ganz dasselbe gilt von seinen
Lustspielen ("ein Morgenscherz", 1824, "die Schule der Frommen", 1829,


zw'el entgegengesehen Gesichtspunkten zu betrachten, und, diesen Gesichtspunkten
entsprechend, gleichzeitig die entgegengesetzten Gefühle im Herzen zu tragen.
Früher hatte man seine specielle Idee mit gläubigem Pathos der Welt gepredigt,
und die Ironie den Gegnern überlassen, oder umgekehrt; jetzt fühlte man sich
verpflichtet, das ^eigene Pathos zu'ironisiren und sür die Ideen, die mau eigent-
lich haßte und verabscheute, eine gewisse empfindelude Sympathie in sich zu er¬
wecken. Ans diesem Durcheinander von Gesichtspunkten ging der sogenannte
Weltschmerz hervor und jene gebrochenen Charaktere, die niemals wissen, was
sie wollen, weil sie sich nie zu einer Wahl entschließen können. Habe ich das
Zeitalter der Restauration als die Unbefangenheit in der Befangenheit charakteri-
sirt, so möge man mir für das- jungdeutsche Zeitalter die entgegengesetzte Bezeich¬
nung zu Gute halten: die Befangenheit in der Unbefangenheit.

Ich darf wol kam» hinzusetzen, daß ich unter dem Collectivbegriff „junges
Deutschland" keineswegs blos die bekannten Schriftsteller verstehe, die man ge¬
wöhnlich unter dieser Kategorie zusammenfaßt. Es ist vielmehr der Charakter
der deutschen Literatur seit der Julirevolution überhaupt, und bei den meisten
Schriftstellern, die beiden Perioden angehören, kann man einen bestimmten Wende¬
punkt nachweisen, wo sie aus der einen Richtung in die andere übertraten.

Immermann ist ein sehr charakteristisches Beispiel für diese Anwendung.
Seine früheren Dichtungen gehören ganz entschieden dein Charakter der Restaura¬
tionsperiode an; mit „Alexis" und „Merlin" steht er auf der Scheidegrenze, in
den späteren Romanen ist er vollkommen jnngdeutsch.

Seine natürliche Anlage machte ihn vorzugsweise dazu geeignet, diesen Ein¬
flüssen zu verfallen. Ein gesunder tüchtiger Verstand und dabei eine vollständige
Unprvductivitat in der Dialektik; eine an Starrköpfigkeit grenzende Sprödigkeit
und doch der unausgesetzte lebhafte Trieb, sich von allen Seiten das Schöne
und Gute anzueignen; eine unverdrossene Arbeitskraft und ein vollständiger Mangel
an jener angebornen Poesie, die allein beim Schaffen Frende bringt.

Dieser Mangel an Poesie zeigt sich namentlich in seinen lyrischen Gedichten,
die in einer sehr großen Zahl vorhanden sind. Beim Drama und beim Roman
kann ein ernster Wille, consequentes Streben, eine sichere Bildung und techni¬
scher Verstand wenigstens bis zu einem gewissen Grad diese schönste Gabe der
Götter ersetzen, die man nur als Geschenk erwirbt. In dem heitern, flüchtigen
Spiel der Lyrik ist das unmöglich. Immermann's lyrische Gedichte sind fast
ausschließlich die nackte, nüchterne Prosa, in der zuweilen die grenzenloseste
Abgeschmacktheit die Stelle der Erhebung vertreten muß, bis zum Erschrecken
unschön in der Form und dürftig im Inhalt. Außerdem findet sich bei ihm,
wie bei jedem Lyriker aus Reflexion, eine unbewußte Nachbildung überlieferter
Formen, die nicht selten ans Komische streift. — Ganz dasselbe gilt von seinen
Lustspielen („ein Morgenscherz", 1824, „die Schule der Frommen", 1829,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/212>, abgerufen am 04.07.2024.