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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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sichtsloser und verfluchen den Ungetreuen, was das deutsche Lied nnr sehr selten
thut; sie behandeln auch wieder die Untreue als etwas Gewöhnliches, über welches
sich der verletzte Theil nicht nur mit leichtem Sinn oder Resignation, sondern
anch durch Haß und Stolz weghilft, was die deutsche Natur zuweilen versucht,
aber nicht mit demselben Glück; sie sind im Ausdruck der leidenschaftlichen Zu¬
neigung vielleicht noch edler, oft zierlicher, als die deutschen; die ganzen Lebens¬
bedingungen des Volkes erscheinen fester, einfacher, patriarchalischer, das Ver¬
hältnis; der Tochter zu der Mutter, der Schwiegertochter zu den Aeltern des
Geliebten zeigt eine rührende Pietät. Ueberall sieht man eine größere Freude
an der äußern Erscheinung und ein größeres Geschick in der Repräsentation und
eine gewisse achtungsvolle Höflichkeit in dem Verkehr der Menschen mit einander,
wie sie allen slavischen Stämmen von Haus aus eigenthümlich war. Dazwischen
'läßt sich hier und da auch ein Druck erkenne", welcher von außen herkommend
auf dem Leben des Einzelnen lastet; zahlreich sind die Lieder, wo der Geliebte
dnrch den Staat seiner Familie entrissen wird; der Scheidende sucht dann wol
seine Entschädigung in dem schwarzen Roß und dem bunten Kleide, welches er
als Soldat anzieht. Die naive Zierlichkeit des slavischen Ausdrucks hat eine"
häufigen Gebrauch der Diminutiva hervorgebracht, welche im czechischen treuher¬
ziger klingen als im Deutschen; die Uebersetzerin hat sie als charakteristisch bei¬
behalten, sie stören aber ein wenig, wo sie sich gerade häufen. -- Den Schluß des
Bandes bilden einige Romanzen und Legenden, unter denen "die todte Mutter
und ihr Kind" zu den rührendsten und schönsten Liedern gehören, welche je von
einem Volke gesungen worden find.

Der bedeutsame Gegensatz zwischen dem epischen Charakter der südslavischcn
Poesie und der durchaus lyrischen Haltung der anderen slavischen Volk'sgedichte
ist schon ost hervorgehoben worden. Bei dem stärkern Südslavenstamme hat sich
unter allem Druck fremder Herrschaft doch ein politisch selbstständiges Gemeindc-
und Volksleben erhalten, und das trotzige Kraftgefühl, welches in diesem sla¬
vischen Stamme ungebrochen ist, wird genährt dnrch die Erinnerung an die
Thaten und den Ruhm seiner Vorfahren, von denen er nicht durch seine Sclaverei
entfremdet wordeu ist. ' Bei allen Slaven dagegen, wo die Leibeigenschaft ein¬
geführt wurde, wo das Selbstgefühl des Volkes vernichtet wurde, um privilegirte
Einzelne, Einheimische oder Fremde, über das Volk zu erheben, da hat sich die
Poesie, die ewig lebendige, nnr in dem kleinern Kreise der Familiengefühle er¬
halten; dort blüht sie noch wie die wilde Rose in der Felsschlucht, unbeachtet, oft
unsichtbar für Fremde. Und wenn die lange Herrschaft strenger Herren im Laufe
der Jahrhunderte dem czechischen Landmann etwas störrisches, Trotziges,
Finsteres gegeben hat, welches dem Reisenden zuweilen -unangenehm auffällt, >so
wollen wir nicht vergessen, daß dies nnr eine Seite seines Wesens ist, und daß
ein heißes Fühlen, und eine Fülle idealer Empfindungen demselben Volksstamm


sichtsloser und verfluchen den Ungetreuen, was das deutsche Lied nnr sehr selten
thut; sie behandeln auch wieder die Untreue als etwas Gewöhnliches, über welches
sich der verletzte Theil nicht nur mit leichtem Sinn oder Resignation, sondern
anch durch Haß und Stolz weghilft, was die deutsche Natur zuweilen versucht,
aber nicht mit demselben Glück; sie sind im Ausdruck der leidenschaftlichen Zu¬
neigung vielleicht noch edler, oft zierlicher, als die deutschen; die ganzen Lebens¬
bedingungen des Volkes erscheinen fester, einfacher, patriarchalischer, das Ver¬
hältnis; der Tochter zu der Mutter, der Schwiegertochter zu den Aeltern des
Geliebten zeigt eine rührende Pietät. Ueberall sieht man eine größere Freude
an der äußern Erscheinung und ein größeres Geschick in der Repräsentation und
eine gewisse achtungsvolle Höflichkeit in dem Verkehr der Menschen mit einander,
wie sie allen slavischen Stämmen von Haus aus eigenthümlich war. Dazwischen
'läßt sich hier und da auch ein Druck erkenne», welcher von außen herkommend
auf dem Leben des Einzelnen lastet; zahlreich sind die Lieder, wo der Geliebte
dnrch den Staat seiner Familie entrissen wird; der Scheidende sucht dann wol
seine Entschädigung in dem schwarzen Roß und dem bunten Kleide, welches er
als Soldat anzieht. Die naive Zierlichkeit des slavischen Ausdrucks hat eine»
häufigen Gebrauch der Diminutiva hervorgebracht, welche im czechischen treuher¬
ziger klingen als im Deutschen; die Uebersetzerin hat sie als charakteristisch bei¬
behalten, sie stören aber ein wenig, wo sie sich gerade häufen. — Den Schluß des
Bandes bilden einige Romanzen und Legenden, unter denen „die todte Mutter
und ihr Kind" zu den rührendsten und schönsten Liedern gehören, welche je von
einem Volke gesungen worden find.

Der bedeutsame Gegensatz zwischen dem epischen Charakter der südslavischcn
Poesie und der durchaus lyrischen Haltung der anderen slavischen Volk'sgedichte
ist schon ost hervorgehoben worden. Bei dem stärkern Südslavenstamme hat sich
unter allem Druck fremder Herrschaft doch ein politisch selbstständiges Gemeindc-
und Volksleben erhalten, und das trotzige Kraftgefühl, welches in diesem sla¬
vischen Stamme ungebrochen ist, wird genährt dnrch die Erinnerung an die
Thaten und den Ruhm seiner Vorfahren, von denen er nicht durch seine Sclaverei
entfremdet wordeu ist. ' Bei allen Slaven dagegen, wo die Leibeigenschaft ein¬
geführt wurde, wo das Selbstgefühl des Volkes vernichtet wurde, um privilegirte
Einzelne, Einheimische oder Fremde, über das Volk zu erheben, da hat sich die
Poesie, die ewig lebendige, nnr in dem kleinern Kreise der Familiengefühle er¬
halten; dort blüht sie noch wie die wilde Rose in der Felsschlucht, unbeachtet, oft
unsichtbar für Fremde. Und wenn die lange Herrschaft strenger Herren im Laufe
der Jahrhunderte dem czechischen Landmann etwas störrisches, Trotziges,
Finsteres gegeben hat, welches dem Reisenden zuweilen -unangenehm auffällt, >so
wollen wir nicht vergessen, daß dies nnr eine Seite seines Wesens ist, und daß
ein heißes Fühlen, und eine Fülle idealer Empfindungen demselben Volksstamm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/156>, abgerufen am 24.07.2024.