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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band.

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darin liegt doch wol eine Ungerechtigkeit, denn Spelunken wie diejenigen, welche
der Dichter schildert, existiren noch heute in Berlin, wenn sie auch nicht in so di-
recter Beziehung zu deu höchsten Regionen der Gesellschaft stehen. Außerdem
unterscheidet sich Alexis von den gleichzeitigen Memoirenschrcibern dadurch, daß
er die damals gebräuchliche Sprache, so weit sie der Sprache der allgemeinen
Bildung entgegenstand, wieder herstellen möchte. So finden wir neben einander
einerseits die ideale Sprache der Goethe'schen Gesellschaft bis zu den Uebertrei¬
bungen der Romantiker, auch wol etwas gesättigt mit jungdeutschen Elementen,
andererseits das Französiren der vornehmen Gesellschaft und den verdorbenen Ber¬
liner Dialekt des Bürgerfiandes. Das alles zusammen macht kein sehr erfreu¬
liches Bild, und dürfte überhaupt bet historischen Romanen kein zweckmäßiger Ver¬
such sein. In den früheren Jahrhunderten verbietet sich dergleichen von selbst;
aber es scheint uns auch sür eine nahe liegende Zeit angemessen, die damalige
Conversationssprache in die unsrige zu übersetzen, den" bei dem Nachschaffen eiuer
verdorbenen Redeweise kann nicht einmal die volle Wahrheit erreicht werden, und
der komische Eindruck, der allenfalls dadurch hervorgebracht wird, ist doch nur ein>
sehr äußerlicher. Wir würden z. B. Philine durchaus nicht reizender finden,
wenn sie sich in einem so verdorbenen Dialekt ausdrückte, wie es die wirkliche
Philine wahrscheinlich gethan hat. Ganz anders ist es bei historischen Darstel¬
lungen. Wenn z. B. in der Lebensbeschreibung von Stein oder von Uork
Briefe, Reden und andere Actenstücke mitgetheilt werden, die auch die Zufällig¬
keiten der äußeren Formen wiedergeben, so ist das für das Portrait ein neuer
charakteristischer Zug.

Wenn man von diesen Ausstellungen absieht, so enthält der Roman sehr viel
Vortreffliches. Das Hauptverdienst unsres Dichters, lag schon in seinen frü¬
heren Werken darin, landschaftliche Stimmungen mit einer wunderbaren plastischen
Kraft nachzubilden, und uns dadurch viel lebendiger in den Charakter der darge¬
stellten Zeit zu versetzen, als durch die weitläufigsten Reflexionen möglich sein
würde. Dieser Vorzug ist auch diesmal in reichem Maße vorhanden. Außerdem
sind die Charaktere, wenn auch uicht in der klaren, ruhigen, durchsichtigen und
consequenten Fortentwickelung Walter Scott's, dennoch in ihren einzelnen Zügen
mit großer Schärfe und Originalität skizzirt und ihre Seelenbewegnngen im
Detail nachempfunden. Dabei tritt freilich zuweilen der Uebelstand ein, daß sich
der Dichter ins Detail verliert und den eigentlichen Zweck seiner Schilderung ver¬
gißt. So schildert er einmal mit großer Ausführlichkeit, wie eine Geheimeräthin
Lupinus, eine der Hauptpersonen des Romans, vor dem Schlafengehen einige
Spinnweben in der Ecke bemerkt, diese anzündet und zusieht, wie die Spinnen
verbrennen. So eine Schilderung muß doch irgeud einen Zweck haben, und man
kommt zuerst zu der Vermuthung, daß eine heimliche Neigung zur Grausamkeit
dadurch angedeutet werden soll, aber davon findet sich wenigstens bis jetzt in dem


darin liegt doch wol eine Ungerechtigkeit, denn Spelunken wie diejenigen, welche
der Dichter schildert, existiren noch heute in Berlin, wenn sie auch nicht in so di-
recter Beziehung zu deu höchsten Regionen der Gesellschaft stehen. Außerdem
unterscheidet sich Alexis von den gleichzeitigen Memoirenschrcibern dadurch, daß
er die damals gebräuchliche Sprache, so weit sie der Sprache der allgemeinen
Bildung entgegenstand, wieder herstellen möchte. So finden wir neben einander
einerseits die ideale Sprache der Goethe'schen Gesellschaft bis zu den Uebertrei¬
bungen der Romantiker, auch wol etwas gesättigt mit jungdeutschen Elementen,
andererseits das Französiren der vornehmen Gesellschaft und den verdorbenen Ber¬
liner Dialekt des Bürgerfiandes. Das alles zusammen macht kein sehr erfreu¬
liches Bild, und dürfte überhaupt bet historischen Romanen kein zweckmäßiger Ver¬
such sein. In den früheren Jahrhunderten verbietet sich dergleichen von selbst;
aber es scheint uns auch sür eine nahe liegende Zeit angemessen, die damalige
Conversationssprache in die unsrige zu übersetzen, den» bei dem Nachschaffen eiuer
verdorbenen Redeweise kann nicht einmal die volle Wahrheit erreicht werden, und
der komische Eindruck, der allenfalls dadurch hervorgebracht wird, ist doch nur ein>
sehr äußerlicher. Wir würden z. B. Philine durchaus nicht reizender finden,
wenn sie sich in einem so verdorbenen Dialekt ausdrückte, wie es die wirkliche
Philine wahrscheinlich gethan hat. Ganz anders ist es bei historischen Darstel¬
lungen. Wenn z. B. in der Lebensbeschreibung von Stein oder von Uork
Briefe, Reden und andere Actenstücke mitgetheilt werden, die auch die Zufällig¬
keiten der äußeren Formen wiedergeben, so ist das für das Portrait ein neuer
charakteristischer Zug.

Wenn man von diesen Ausstellungen absieht, so enthält der Roman sehr viel
Vortreffliches. Das Hauptverdienst unsres Dichters, lag schon in seinen frü¬
heren Werken darin, landschaftliche Stimmungen mit einer wunderbaren plastischen
Kraft nachzubilden, und uns dadurch viel lebendiger in den Charakter der darge¬
stellten Zeit zu versetzen, als durch die weitläufigsten Reflexionen möglich sein
würde. Dieser Vorzug ist auch diesmal in reichem Maße vorhanden. Außerdem
sind die Charaktere, wenn auch uicht in der klaren, ruhigen, durchsichtigen und
consequenten Fortentwickelung Walter Scott's, dennoch in ihren einzelnen Zügen
mit großer Schärfe und Originalität skizzirt und ihre Seelenbewegnngen im
Detail nachempfunden. Dabei tritt freilich zuweilen der Uebelstand ein, daß sich
der Dichter ins Detail verliert und den eigentlichen Zweck seiner Schilderung ver¬
gißt. So schildert er einmal mit großer Ausführlichkeit, wie eine Geheimeräthin
Lupinus, eine der Hauptpersonen des Romans, vor dem Schlafengehen einige
Spinnweben in der Ecke bemerkt, diese anzündet und zusieht, wie die Spinnen
verbrennen. So eine Schilderung muß doch irgeud einen Zweck haben, und man
kommt zuerst zu der Vermuthung, daß eine heimliche Neigung zur Grausamkeit
dadurch angedeutet werden soll, aber davon findet sich wenigstens bis jetzt in dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93902/106>, abgerufen am 05.07.2024.