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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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einzelnen Momente kommt es nicht an, sobald es nur der Componist versteht,
sie zu einem harmonischen Kunstwerk zu verewigen, und sobald sie nur einen
wirklichen charakteristischen Zweck haben.

Daß aber die ernste Oper darauf ausgeht, einen andern Stoff zu suchen, als
die ewigen schablonenhaft angelegten Liebesabenteuer Metastasio's, ist ihr wahr¬
haftig nicht zu verdenken. Bei der komischen Oper ist das weniger nöthig (eine
Kunstgattung, deren Existenz beiläufig Wagner in seinem Buch vollständig igno-
rirt), denn bei einem heitern Spiel kommt es auf die zu Grunde gelegte Fabel
weniger an, und es ist hier ein Charakterisiren im engen Kreise viel eher möglich.
Texte wie die zum Barbier oder zum Figaro befriedigen alle Kunstanforderungen.
Bei der tragischen Oper ist es dann blos die Frage, ob sie die Erweiterung des
Horizonts ertragen kann.

Wagner giebt sich selbst die Mühe, eine von den Hauptscenen im Propheten
so auszumalen, wie sie Scribe und Meyerbeer vorschweben mußte, um sie zu
der Entfaltung von Mitteln zu veranlassen, die jetzt bei der Abschwächung der
ethischen Motive einen lächerlichen Eindruck machen. Er hätte es aber auf den
Plan der ganzen Oper ausdehnen können. Der Dichter konnte uns das Volk
von vorn herein in unruhiger Gährung, in einer gerechten Unzufriedenheit
schildern, er kounte dann dieser Gährung durch eine freche individuelle Gewalt¬
that, die Veranlassung zum Ausbruch geben, den wirklichen Ausbruch aber theils
durch den geschlossenen Widerstand der Aristokratie, theils dnrch die Unfähigkeit
des Volks, sich selbst zu bestimmen, vorläufig vereiteln; er konnte dann dnrch die
drei Wiedertäufer, die freilich uicht mit französischem Pragmatismus als habsüch¬
tige Spitzbuben geschildert werden durften, der Gährung eine Consistenz geben
lassen, indem sie dem unterdrückten Volk einen Propheten verheißen, der es zum
Siege führen würde. Um diesen künstigen Propheten zu finden, mußten sie frei¬
lich nicht nach äußerlichen Kennzeichen suchen, sondern nach einer entsprechenden
innern Stimmung und Anlage. Es mußte nicht blos angedeutet, sondern ausge¬
führt werden, daß Johann tief ergriffen ist von den Leiden des Volks, daß dieses
Mitgefühl bei ihm ungefähr wie bei der Jungfrau von Orleans die Form religiöser
Schwärmerei annimmt, und nur durch die Liebe zu Bertha und die Pietät gegen
seine Mutter paralysirt wird. Jetzt folgen die Scenen des zweiten Acts, Liebe
und Pietät stehen seiner Schwärmerei uicht mehr im Wege, sie geben ihr viel¬
mehr neue Nahrung. In dieser Stimmung weissagt er das kommende Gericht.
Die Wiedertäufer, die ihn belauschen, erkennen in der Gewalt seines Zornes den
verheißenen Propheten, offenbaren ihm mit imponirender Ueberzeugung seine
Bestimmung, und schärfen ihm zugleich ein, gerade wie die Himmelskönigin der
Jungfrau von Orleans, daß er, um dem Rufe des Herrn zu folgen, allen irdischen
Bauden entsagen müsse. In seiner erhöhten Stimmung geht er diese Verpflich¬
tung ein. Im folgenden Act können nun die Greuelthaten und die Unordnungen,


einzelnen Momente kommt es nicht an, sobald es nur der Componist versteht,
sie zu einem harmonischen Kunstwerk zu verewigen, und sobald sie nur einen
wirklichen charakteristischen Zweck haben.

Daß aber die ernste Oper darauf ausgeht, einen andern Stoff zu suchen, als
die ewigen schablonenhaft angelegten Liebesabenteuer Metastasio's, ist ihr wahr¬
haftig nicht zu verdenken. Bei der komischen Oper ist das weniger nöthig (eine
Kunstgattung, deren Existenz beiläufig Wagner in seinem Buch vollständig igno-
rirt), denn bei einem heitern Spiel kommt es auf die zu Grunde gelegte Fabel
weniger an, und es ist hier ein Charakterisiren im engen Kreise viel eher möglich.
Texte wie die zum Barbier oder zum Figaro befriedigen alle Kunstanforderungen.
Bei der tragischen Oper ist es dann blos die Frage, ob sie die Erweiterung des
Horizonts ertragen kann.

Wagner giebt sich selbst die Mühe, eine von den Hauptscenen im Propheten
so auszumalen, wie sie Scribe und Meyerbeer vorschweben mußte, um sie zu
der Entfaltung von Mitteln zu veranlassen, die jetzt bei der Abschwächung der
ethischen Motive einen lächerlichen Eindruck machen. Er hätte es aber auf den
Plan der ganzen Oper ausdehnen können. Der Dichter konnte uns das Volk
von vorn herein in unruhiger Gährung, in einer gerechten Unzufriedenheit
schildern, er kounte dann dieser Gährung durch eine freche individuelle Gewalt¬
that, die Veranlassung zum Ausbruch geben, den wirklichen Ausbruch aber theils
durch den geschlossenen Widerstand der Aristokratie, theils dnrch die Unfähigkeit
des Volks, sich selbst zu bestimmen, vorläufig vereiteln; er konnte dann dnrch die
drei Wiedertäufer, die freilich uicht mit französischem Pragmatismus als habsüch¬
tige Spitzbuben geschildert werden durften, der Gährung eine Consistenz geben
lassen, indem sie dem unterdrückten Volk einen Propheten verheißen, der es zum
Siege führen würde. Um diesen künstigen Propheten zu finden, mußten sie frei¬
lich nicht nach äußerlichen Kennzeichen suchen, sondern nach einer entsprechenden
innern Stimmung und Anlage. Es mußte nicht blos angedeutet, sondern ausge¬
führt werden, daß Johann tief ergriffen ist von den Leiden des Volks, daß dieses
Mitgefühl bei ihm ungefähr wie bei der Jungfrau von Orleans die Form religiöser
Schwärmerei annimmt, und nur durch die Liebe zu Bertha und die Pietät gegen
seine Mutter paralysirt wird. Jetzt folgen die Scenen des zweiten Acts, Liebe
und Pietät stehen seiner Schwärmerei uicht mehr im Wege, sie geben ihr viel¬
mehr neue Nahrung. In dieser Stimmung weissagt er das kommende Gericht.
Die Wiedertäufer, die ihn belauschen, erkennen in der Gewalt seines Zornes den
verheißenen Propheten, offenbaren ihm mit imponirender Ueberzeugung seine
Bestimmung, und schärfen ihm zugleich ein, gerade wie die Himmelskönigin der
Jungfrau von Orleans, daß er, um dem Rufe des Herrn zu folgen, allen irdischen
Bauden entsagen müsse. In seiner erhöhten Stimmung geht er diese Verpflich¬
tung ein. Im folgenden Act können nun die Greuelthaten und die Unordnungen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/98>, abgerufen am 22.07.2024.