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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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Flexionen fast ganz über den spanischen vergaßen. Die Erforschung des eigen¬
thümlichen Sprachgutes der Zigeuner wird durch diese verschiedene Entwickelung
sehr erschwert, denn es ist nöthig, die Zigeunersprache aller Länder nebeneinander
zu halten, überall das Fremde wegzuschneiden und das oft sehr verunstaltete Echte
herauszufinden, deun auch vieles Eigenthümliche hat sich in einem Lande erhalten, was
in dem andern untergegangen ist. Dazu kommt ferner, daß der Rom sehr bald
ein großer Dieb wurde, und fast überall außer der gewöhnlichen Landessprache
auch die Sprache der Wissenden in demselben, den Diebsdialekt, sich aneignete.
Ueberall hat er eine außerordentliche Gewandtheit gezeigt, die Landessprache zu
lernen, und überall hat er, als Freund und Vertrauter der nationalen Diebe, in
freundlichem Austausche Wörter ihres Jargons angenommen und ihnen von
seinem Sprachschatze mitgetheilt. In Deutschland versteht er Nothwelsch oder
Jenisch, in Böhmen die Hantyrka, in Frankreich das Argot, in England den
Slang, in Spanien die Germania. So sind die Zigeunerdialekte gegenwärtig
sehr von einander verschieden, und es wird schwer, der Behauptung von Borrow
zu glauben, daß die Zigeuner der ganzen Erde einander, trotz der langen Tren¬
nung, noch mit Leichtigkeit verstehen, wenn er anch erzählt, daß er selbst als
englischer Rom sowohl von russischen Zigennermädchen, als vou den spanischen
Gitauos verstanden wurde.

Die Auflösung einer Sprache durch das übermächtige Einwirken einer an¬
dern geht uach bestimmten Gesetzen vor sich. Zunächst dringen die fremden Wörter
in Massen ein, weil die fremde Cultur imponirt; dann wird die Satzbildung der
Fremden angenommen, weil der Geist des Volkes sich gewöhnt, nach der Methode
der Fremden zu denken und zu sprechen; und zum dritten werden die eigenen
Flexionen in Declination und Conjugation vergessen, weil das nationale Sprach¬
gefühl schwindet. Und zuletzt werden auch die alten Wortstamme und Wortbildungen
unverständlich, das nationale Leben hört ganz ans, und die Individuen behalten
in der neuen Sprache nur dunkle und unsichere Erinnerungen an die alte Me¬
thode der Empfindung und des Ausdrucks. So lange die angeborenen Flexionen
bestehen, ist die alte Sprache trotz aller Corruption als lebendig zu betrachten, weil
sie ein originelles Seelenleben der Individuen hervorbringen hilft; verschwinden aber
diese Flexionen, so ist die Sprache nnr noch ein Trümmerhaufe, ein verwitterter
Organismus, dem zerfressenen Felsblock ähnlich, welcher in Grus und Sand aus-
einandersallt. Die Zigeunersprache hat die erste und zweite Stufe der Auflösung
überall durchgemacht, in Spanien anch die dritte.

Es ist schwer, in gedrängter Darstellung eine Uebersicht über den Bau und die
gegenwärtige Physiognomie der romani theod zu geben, zumal deswegen, weil diese
Sprache bei ihrer Zerfahrenheit ihre Laute in unsrer schriftlichen nur schwer und
sehr unvollkommen fixiren läßt. Sie ist nicht durch Schrift geregelt, und die ver¬
schiedenartigste Aussprache derselben Wörter und Endigungen hat gleiche Berechtigung.


Flexionen fast ganz über den spanischen vergaßen. Die Erforschung des eigen¬
thümlichen Sprachgutes der Zigeuner wird durch diese verschiedene Entwickelung
sehr erschwert, denn es ist nöthig, die Zigeunersprache aller Länder nebeneinander
zu halten, überall das Fremde wegzuschneiden und das oft sehr verunstaltete Echte
herauszufinden, deun auch vieles Eigenthümliche hat sich in einem Lande erhalten, was
in dem andern untergegangen ist. Dazu kommt ferner, daß der Rom sehr bald
ein großer Dieb wurde, und fast überall außer der gewöhnlichen Landessprache
auch die Sprache der Wissenden in demselben, den Diebsdialekt, sich aneignete.
Ueberall hat er eine außerordentliche Gewandtheit gezeigt, die Landessprache zu
lernen, und überall hat er, als Freund und Vertrauter der nationalen Diebe, in
freundlichem Austausche Wörter ihres Jargons angenommen und ihnen von
seinem Sprachschatze mitgetheilt. In Deutschland versteht er Nothwelsch oder
Jenisch, in Böhmen die Hantyrka, in Frankreich das Argot, in England den
Slang, in Spanien die Germania. So sind die Zigeunerdialekte gegenwärtig
sehr von einander verschieden, und es wird schwer, der Behauptung von Borrow
zu glauben, daß die Zigeuner der ganzen Erde einander, trotz der langen Tren¬
nung, noch mit Leichtigkeit verstehen, wenn er anch erzählt, daß er selbst als
englischer Rom sowohl von russischen Zigennermädchen, als vou den spanischen
Gitauos verstanden wurde.

Die Auflösung einer Sprache durch das übermächtige Einwirken einer an¬
dern geht uach bestimmten Gesetzen vor sich. Zunächst dringen die fremden Wörter
in Massen ein, weil die fremde Cultur imponirt; dann wird die Satzbildung der
Fremden angenommen, weil der Geist des Volkes sich gewöhnt, nach der Methode
der Fremden zu denken und zu sprechen; und zum dritten werden die eigenen
Flexionen in Declination und Conjugation vergessen, weil das nationale Sprach¬
gefühl schwindet. Und zuletzt werden auch die alten Wortstamme und Wortbildungen
unverständlich, das nationale Leben hört ganz ans, und die Individuen behalten
in der neuen Sprache nur dunkle und unsichere Erinnerungen an die alte Me¬
thode der Empfindung und des Ausdrucks. So lange die angeborenen Flexionen
bestehen, ist die alte Sprache trotz aller Corruption als lebendig zu betrachten, weil
sie ein originelles Seelenleben der Individuen hervorbringen hilft; verschwinden aber
diese Flexionen, so ist die Sprache nnr noch ein Trümmerhaufe, ein verwitterter
Organismus, dem zerfressenen Felsblock ähnlich, welcher in Grus und Sand aus-
einandersallt. Die Zigeunersprache hat die erste und zweite Stufe der Auflösung
überall durchgemacht, in Spanien anch die dritte.

Es ist schwer, in gedrängter Darstellung eine Uebersicht über den Bau und die
gegenwärtige Physiognomie der romani theod zu geben, zumal deswegen, weil diese
Sprache bei ihrer Zerfahrenheit ihre Laute in unsrer schriftlichen nur schwer und
sehr unvollkommen fixiren läßt. Sie ist nicht durch Schrift geregelt, und die ver¬
schiedenartigste Aussprache derselben Wörter und Endigungen hat gleiche Berechtigung.


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[0425] Flexionen fast ganz über den spanischen vergaßen. Die Erforschung des eigen¬ thümlichen Sprachgutes der Zigeuner wird durch diese verschiedene Entwickelung sehr erschwert, denn es ist nöthig, die Zigeunersprache aller Länder nebeneinander zu halten, überall das Fremde wegzuschneiden und das oft sehr verunstaltete Echte herauszufinden, deun auch vieles Eigenthümliche hat sich in einem Lande erhalten, was in dem andern untergegangen ist. Dazu kommt ferner, daß der Rom sehr bald ein großer Dieb wurde, und fast überall außer der gewöhnlichen Landessprache auch die Sprache der Wissenden in demselben, den Diebsdialekt, sich aneignete. Ueberall hat er eine außerordentliche Gewandtheit gezeigt, die Landessprache zu lernen, und überall hat er, als Freund und Vertrauter der nationalen Diebe, in freundlichem Austausche Wörter ihres Jargons angenommen und ihnen von seinem Sprachschatze mitgetheilt. In Deutschland versteht er Nothwelsch oder Jenisch, in Böhmen die Hantyrka, in Frankreich das Argot, in England den Slang, in Spanien die Germania. So sind die Zigeunerdialekte gegenwärtig sehr von einander verschieden, und es wird schwer, der Behauptung von Borrow zu glauben, daß die Zigeuner der ganzen Erde einander, trotz der langen Tren¬ nung, noch mit Leichtigkeit verstehen, wenn er anch erzählt, daß er selbst als englischer Rom sowohl von russischen Zigennermädchen, als vou den spanischen Gitauos verstanden wurde. Die Auflösung einer Sprache durch das übermächtige Einwirken einer an¬ dern geht uach bestimmten Gesetzen vor sich. Zunächst dringen die fremden Wörter in Massen ein, weil die fremde Cultur imponirt; dann wird die Satzbildung der Fremden angenommen, weil der Geist des Volkes sich gewöhnt, nach der Methode der Fremden zu denken und zu sprechen; und zum dritten werden die eigenen Flexionen in Declination und Conjugation vergessen, weil das nationale Sprach¬ gefühl schwindet. Und zuletzt werden auch die alten Wortstamme und Wortbildungen unverständlich, das nationale Leben hört ganz ans, und die Individuen behalten in der neuen Sprache nur dunkle und unsichere Erinnerungen an die alte Me¬ thode der Empfindung und des Ausdrucks. So lange die angeborenen Flexionen bestehen, ist die alte Sprache trotz aller Corruption als lebendig zu betrachten, weil sie ein originelles Seelenleben der Individuen hervorbringen hilft; verschwinden aber diese Flexionen, so ist die Sprache nnr noch ein Trümmerhaufe, ein verwitterter Organismus, dem zerfressenen Felsblock ähnlich, welcher in Grus und Sand aus- einandersallt. Die Zigeunersprache hat die erste und zweite Stufe der Auflösung überall durchgemacht, in Spanien anch die dritte. Es ist schwer, in gedrängter Darstellung eine Uebersicht über den Bau und die gegenwärtige Physiognomie der romani theod zu geben, zumal deswegen, weil diese Sprache bei ihrer Zerfahrenheit ihre Laute in unsrer schriftlichen nur schwer und sehr unvollkommen fixiren läßt. Sie ist nicht durch Schrift geregelt, und die ver¬ schiedenartigste Aussprache derselben Wörter und Endigungen hat gleiche Berechtigung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/425>, abgerufen am 22.07.2024.