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Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band.

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dieselbe ist, so kann bei dem Urtheil über den Werth der einzelnen nur die voll¬
endete Virtuosität den Ausschlag geben. In dieser Beziehung mochte die Ge¬
schichte vou der büßenden Magdalene den Vorzug verdienen, so häßlich auch der
Gegenstand ist. Eine andere Erzählung, "die Gemahlin des Baronet", erregt
als ein psychologisches Räthsel großes Interesse. Es ist die später in einem
französischen Stück benutzte Geschichte von einem verrückt gewordenen Edelmann,
der eine Zeit lang seinen Wahnsinn mit größer Schlauheit vor der Welt zu ver¬
hehlen weiß und seine Frau für verrückt ausgiebt. Eine solche Erfindung hat
zwar, abgesehen von dem häßlichen Grauen, das damit verbunden ist, das Un¬
ästhetische, daß sie keine Ueberzeugung der waltenden Nothwendigkeit zuläßt. Da
uus der Wahnsinn den Mechanismus des Geistes vollständig verschließt, so em¬
pfinden wir in jedem Augenblick eine Willkür, die uns beängstigt und deren
Auflösung ausbleibt. Aber der Dichter hat diesmal mit großer Kunst das Will¬
kürliche und Unvermittelte in so ergreifenden Zügen darzustellen gewußt, daß wir
eine wahre Geschichte vor uus zu haben glauben, an der wir unsren psychologi¬
schen Scharfsinn üben, auch ohne das vorhergehende Verständniß, welches sonst
bei einer poetischen Fiction vorhanden sein muß, wenn sie einen Eindruck
machen soll.

Das zweite Werk Warren's war der Roman: "Zehntausend Pfund jähr¬
licher Renten" (ten Mousanü a-^ear) 1841. Aus der Medicin kommen wir in die
Jurisprudenz, und zwar zunächst in einen Fall des Civilrechts. Der Inhalt ist folgender.
Ein Bureau unternehmender Advocaten macht die Entdeckung, daß ans ein reiches
Landgut, welches schou seit mehreren Generationen der Familie der gegenwärtigen
Besitzer angehört, ein Nebenzweig der Familie Ansprüche hat. Sie führen zu
Gunsten ihres Clienten einen Proceß mit allen Chicanen rabnlistischer Rechts-
verdrehnng, und gewinnen ihn endlich durch eine sonderbare Bestimmung des
formalen Rechts. Ihr Client, in moralischer, wie in ästhetischer Beziehung eine
höchst verächtliche Figur, kommt in den Besitz einer glänzenden socialen Stellung,
heirathet die Tochter eines Lords, wird ins Parlament gewählt, während der
ehemalige Besitzer, ein tugendhafter Manu, das Ideal eiues christlichen Gentleman,
in die größte Noth verfällt, bis endlich zum Schluß eine früher übersehene Be¬
stimmung des formalen Rechts zu einer Kassation des ersten Urtheils und zur
Herstellung des alten Verhältnisses führt. Dieser Proceß mit allen seinen Chi¬
canen ist mit einer eben so großen Sachkenntniß und Virtuosität durchgeführt,
wie im "Tagebuch eines Arztes" die medicinischen Fälle. Die Actenstücke, die
Verhandlungen, die Gerichtsreden, die Berechnung der Kosten u. s. w., alles das
wird uns mit einer Genauigkeit detaillirt, wie es unter den übrigen Novellisten
nur Balzac zu thun pflegt. Wir können daran um so interessantere Studien über
das englische Rechtsverfahren machen, da Warren keineswegs diese juristischen
Institutionen mit der absoluten Ironie behandelt, wie es in ähnlichen Fällen die


dieselbe ist, so kann bei dem Urtheil über den Werth der einzelnen nur die voll¬
endete Virtuosität den Ausschlag geben. In dieser Beziehung mochte die Ge¬
schichte vou der büßenden Magdalene den Vorzug verdienen, so häßlich auch der
Gegenstand ist. Eine andere Erzählung, „die Gemahlin des Baronet", erregt
als ein psychologisches Räthsel großes Interesse. Es ist die später in einem
französischen Stück benutzte Geschichte von einem verrückt gewordenen Edelmann,
der eine Zeit lang seinen Wahnsinn mit größer Schlauheit vor der Welt zu ver¬
hehlen weiß und seine Frau für verrückt ausgiebt. Eine solche Erfindung hat
zwar, abgesehen von dem häßlichen Grauen, das damit verbunden ist, das Un¬
ästhetische, daß sie keine Ueberzeugung der waltenden Nothwendigkeit zuläßt. Da
uus der Wahnsinn den Mechanismus des Geistes vollständig verschließt, so em¬
pfinden wir in jedem Augenblick eine Willkür, die uns beängstigt und deren
Auflösung ausbleibt. Aber der Dichter hat diesmal mit großer Kunst das Will¬
kürliche und Unvermittelte in so ergreifenden Zügen darzustellen gewußt, daß wir
eine wahre Geschichte vor uus zu haben glauben, an der wir unsren psychologi¬
schen Scharfsinn üben, auch ohne das vorhergehende Verständniß, welches sonst
bei einer poetischen Fiction vorhanden sein muß, wenn sie einen Eindruck
machen soll.

Das zweite Werk Warren's war der Roman: „Zehntausend Pfund jähr¬
licher Renten" (ten Mousanü a-^ear) 1841. Aus der Medicin kommen wir in die
Jurisprudenz, und zwar zunächst in einen Fall des Civilrechts. Der Inhalt ist folgender.
Ein Bureau unternehmender Advocaten macht die Entdeckung, daß ans ein reiches
Landgut, welches schou seit mehreren Generationen der Familie der gegenwärtigen
Besitzer angehört, ein Nebenzweig der Familie Ansprüche hat. Sie führen zu
Gunsten ihres Clienten einen Proceß mit allen Chicanen rabnlistischer Rechts-
verdrehnng, und gewinnen ihn endlich durch eine sonderbare Bestimmung des
formalen Rechts. Ihr Client, in moralischer, wie in ästhetischer Beziehung eine
höchst verächtliche Figur, kommt in den Besitz einer glänzenden socialen Stellung,
heirathet die Tochter eines Lords, wird ins Parlament gewählt, während der
ehemalige Besitzer, ein tugendhafter Manu, das Ideal eiues christlichen Gentleman,
in die größte Noth verfällt, bis endlich zum Schluß eine früher übersehene Be¬
stimmung des formalen Rechts zu einer Kassation des ersten Urtheils und zur
Herstellung des alten Verhältnisses führt. Dieser Proceß mit allen seinen Chi¬
canen ist mit einer eben so großen Sachkenntniß und Virtuosität durchgeführt,
wie im „Tagebuch eines Arztes" die medicinischen Fälle. Die Actenstücke, die
Verhandlungen, die Gerichtsreden, die Berechnung der Kosten u. s. w., alles das
wird uns mit einer Genauigkeit detaillirt, wie es unter den übrigen Novellisten
nur Balzac zu thun pflegt. Wir können daran um so interessantere Studien über
das englische Rechtsverfahren machen, da Warren keineswegs diese juristischen
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[0414] dieselbe ist, so kann bei dem Urtheil über den Werth der einzelnen nur die voll¬ endete Virtuosität den Ausschlag geben. In dieser Beziehung mochte die Ge¬ schichte vou der büßenden Magdalene den Vorzug verdienen, so häßlich auch der Gegenstand ist. Eine andere Erzählung, „die Gemahlin des Baronet", erregt als ein psychologisches Räthsel großes Interesse. Es ist die später in einem französischen Stück benutzte Geschichte von einem verrückt gewordenen Edelmann, der eine Zeit lang seinen Wahnsinn mit größer Schlauheit vor der Welt zu ver¬ hehlen weiß und seine Frau für verrückt ausgiebt. Eine solche Erfindung hat zwar, abgesehen von dem häßlichen Grauen, das damit verbunden ist, das Un¬ ästhetische, daß sie keine Ueberzeugung der waltenden Nothwendigkeit zuläßt. Da uus der Wahnsinn den Mechanismus des Geistes vollständig verschließt, so em¬ pfinden wir in jedem Augenblick eine Willkür, die uns beängstigt und deren Auflösung ausbleibt. Aber der Dichter hat diesmal mit großer Kunst das Will¬ kürliche und Unvermittelte in so ergreifenden Zügen darzustellen gewußt, daß wir eine wahre Geschichte vor uus zu haben glauben, an der wir unsren psychologi¬ schen Scharfsinn üben, auch ohne das vorhergehende Verständniß, welches sonst bei einer poetischen Fiction vorhanden sein muß, wenn sie einen Eindruck machen soll. Das zweite Werk Warren's war der Roman: „Zehntausend Pfund jähr¬ licher Renten" (ten Mousanü a-^ear) 1841. Aus der Medicin kommen wir in die Jurisprudenz, und zwar zunächst in einen Fall des Civilrechts. Der Inhalt ist folgender. Ein Bureau unternehmender Advocaten macht die Entdeckung, daß ans ein reiches Landgut, welches schou seit mehreren Generationen der Familie der gegenwärtigen Besitzer angehört, ein Nebenzweig der Familie Ansprüche hat. Sie führen zu Gunsten ihres Clienten einen Proceß mit allen Chicanen rabnlistischer Rechts- verdrehnng, und gewinnen ihn endlich durch eine sonderbare Bestimmung des formalen Rechts. Ihr Client, in moralischer, wie in ästhetischer Beziehung eine höchst verächtliche Figur, kommt in den Besitz einer glänzenden socialen Stellung, heirathet die Tochter eines Lords, wird ins Parlament gewählt, während der ehemalige Besitzer, ein tugendhafter Manu, das Ideal eiues christlichen Gentleman, in die größte Noth verfällt, bis endlich zum Schluß eine früher übersehene Be¬ stimmung des formalen Rechts zu einer Kassation des ersten Urtheils und zur Herstellung des alten Verhältnisses führt. Dieser Proceß mit allen seinen Chi¬ canen ist mit einer eben so großen Sachkenntniß und Virtuosität durchgeführt, wie im „Tagebuch eines Arztes" die medicinischen Fälle. Die Actenstücke, die Verhandlungen, die Gerichtsreden, die Berechnung der Kosten u. s. w., alles das wird uns mit einer Genauigkeit detaillirt, wie es unter den übrigen Novellisten nur Balzac zu thun pflegt. Wir können daran um so interessantere Studien über das englische Rechtsverfahren machen, da Warren keineswegs diese juristischen Institutionen mit der absoluten Ironie behandelt, wie es in ähnlichen Fällen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 11, 1852, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341573_93364/414>, abgerufen am 22.07.2024.